Digitale Trauerbewältigung:Das Netz vergisst den Verstorbenen nicht

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Was geschieht nach dem Tod mit den Spuren, die ein Mensch im Internet hinterlässt? Ein Elternpaar, das den Sohn durch einen Unfall verlor, fand darauf eine ganz eigene Antwort. Die Erinnerung an den Toten lebt auf seinem Facebook-Profil weiter.

Steve Przybilla

Was bleibt, ist die Erinnerung, hieß es früher - ein paar Fotos, Briefe vielleicht, die eine oder andere Hinterlassenschaft. Heute wird den Hinterbliebenen nach dem Tod eines Menschen weit mehr überliefert: Bildergalerien auf Facebook, Einträge in Diskussionsforen, E-Mails, Texte, Videos. Doch was tun mit den Spuren, die sich im Internet sammeln? Löschen aus Respekt vor den Toten oder aufbewahren als Erinnerung?

Das Netz konserviert das Andenken an Verstorbene. (Foto: Katharina Bitzl)

Eine Familie aus der Nähe von Stuttgart hat sich für Letzteres entschieden. "Unser Gedenken findet öffentlich statt", sagt Veronika Baumgarten (alle Namen von der Redaktion geändert), die ihren 22-jährigen Sohn Thomas vergangenes Jahr bei einem Unfall verloren hat. Ihr Mann Horst, 52, nickt: "Es ist beruhigend, im Netz zu lesen, wie eng die Freundschaften unseres Sohnes waren."

Die erste Begegnung mit Thomas' Computer war für die Eltern ein Schock. "Als wir seine E-Mails gelesen haben, sind extrem viele Emotionen hochgekommen", sagt die Mutter. Entfernte Bekannte, die von Thomas' Unfall noch nichts wussten, posteten weiterhin Links, flotte Sprüche und Statusmeldungen bei Facebook. Die Familie entschloss sich, Thomas' Profil in Würde zu erhalten. Sein Bruder erstellte ein neues Profilbild im Stil der Dankeskarte, die nach der Trauerfeier verschickt worden war.

"Wenn ihr mich suchet, suchet mich in euren Herzen", steht seitdem auf der Seite des jungen Mannes. Die Fotos, die ihn beim Partymachen, mit Freunden und im Urlaub zeigen, sind weiterhin für die Nachwelt zu sehen - für jeden. Wir erfahren, dass der junge Mann den Film "Hangover" mochte, lustige Bücher las und Lukas Podolski gut fand.

Freundschaftsanfragen werden beantwortet

Bis heute hat die Familie das Passwort des Facebook-Accounts nicht - es ist nach wie vor auf Thomas' Rechner gespeichert. Ein Freund verwaltet den Account und nahm vor Kurzem zwei Freundschaftsanfragen an. "Sehr schön gemacht", kommentiert ein Kumpel das neue Profilbild. "Mach's gut", antwortet eine Freundin. "Werde dich nie vergessen."

Wer im Profil weiter nach unten scrollt, kann tiefer ins Leben des jungen Mannes eintauchen. Thomas, wie er vor einem anstrengenden Arbeitstag "noch ne Runde entspannen" will. Thomas, wie er sich über das verpatzte Handballspiel ärgert. Thomas, wie er das neueste Youtube-Video postet. 243 Personen sind auch mehr als ein Jahr nach seinem Tod mit ihm virtuell befreundet.

Eltern organisieren Treffen im Netz

Der engste Freundeskreis kommt auch in der echten Welt regelmäßig zu den Baumgartens nach Hause. Organisiert haben die Eltern die meisten Treffen per Internet. Die negative Seite der öffentlichen Trauer: Auch diejenigen, die den Schmerz missbrauchen, haben leichter Zugang zu den Angehörigen. "Plötzlich standen zwei Typen einer Sekte vor der Tür", sagt der Vater. Ob die zwielichtigen Gestalten wirklich durch das Facebook-Profil angelockt wurden oder vielleicht doch durch die Todesanzeige, weiß aber auch Baumgarten nicht.

"Thomas war halt ständig online", sagt der Vater schulterzuckend. Dass sich viele Menschen in sozialen Netzwerken regelrecht ausziehen, hält der 52-Jährige für "total bescheuert". So einer sei Thomas aber nicht gewesen. Der habe immer genau gewusst, was er ins Internet stellt - und was nicht.

Kontakt mit dem Unternehmen Facebook hat die Familie bisher nicht aufgenommen, obwohl es dort die Möglichkeit gibt, ein offizielles Trauerprofil zu beantragen. Doch die Hürden sind hoch: Sowohl Facebook als auch deutsche Netzwerke wie die VZ-Gruppe (StudiVZ, SchülerVZ, Mein VZ) verlangen als Nachweis die Kopie der Sterbeurkunde, bevor ein Profil gelöscht oder in den sogenannten Gedenkzustand versetzt wird.

Ähnlich verhält es sich bei E-Mail-Konten. Das deutsche Unternehmen GMX gewährt nur Erbberechtigten nach Vorlage des Erbscheins und der Sterbeurkunde Zugang zum Postfach des Verstorbenen. "Um Missbrauch auszuschließen, muss der Erbe sich mit seinem Personalausweis identifizieren und den Zugriff handschriftlich beantragen", erklärt GMX-Sprecherin Nadja Heinz. Dies geschehe derzeit ein- bis dreimal jährlich. Beim Konkurrenten Web.de gilt eine ähnliche Regelung.

Xing löscht Profile Verstorbener

Das US-Unternehmen Google, das ebenfalls einen E-Mail-Dienst betreibt, antwortete nicht auf Anfragen. Rigide verfährt dagegen die Karrierebörse Xing. Nachdem der Betreiber per E-Mail, telefonisch oder postalisch über den Tod eines Nutzers informiert wurde, schaltet er das Profil zunächst inaktiv. "Endgültig gelöscht wird es erst nach drei Monaten", sagt ein Sprecher. Zugriff auf die gespeicherten Informationen gewährt Xing aus Datenschutzgründen niemandem.

Überhaupt ist es rechtlich umstritten, wer auf die digitalen Hinterlassenschaften eines Verstorbenen zugreifen darf. Klare rechtliche Regeln gibt es bisher nicht - der "digitale Nachlass" ist eine Grauzone. Allerdings kann man sich bereits zu Lebzeiten absichern. Anwälte raten, möglichst wenige persönliche Informationen online zu stellen. Zudem gibt es englischsprachige Internet-Angebote wie Asset Lock oder Legacy Locker, die Passwörter und Zugangsdaten gegen Gebühr speichern - und nach dem Tod nur an diejenigen herausgeben, die der Kunde zuvor benannt hat. Das Ganze geht freilich auch in der analogen Welt: Zum Notar gehen, Passwörter hinterlegen und aufschreiben, was mit den Daten nach dem Tod geschehen soll.

© SZ vom 06.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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