Das Internet (4):Wenn wir surfen Seit' an Seit'

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"New Edge" tarnte in Wahrheit den Erfolg der Computer-Industrie als gesellschaftliche Revolution.

Andrian Kreye

(SZ vom 30.9.2002) - Eigentlich sollte Schluss sein mit den Ideologien. Im Sommer 1989 verkündete der Politologe Francis Fukuyama in der Zeitschrift The National Interest das Ende der Geschichte und den Beginn des postideologischen Zeitalters. Zur selben Zeit aber formierten sich dreitausend Meilen westlich davon schon die Grundlagen einer neuen Ideologie. Was mit diesen Cyberpunks der Westküste begann, wurde von Theoretikern, Politikern und Unternehmern aufgenommen, die als Libertarier der Cyber-Ära für die ultimative Freiheit kämpften. Mit liberaler Demokratie hatte das wenig zu tun. Mit Fukuyamas Forderung nach einem radikalen Optimismus umso mehr.

Im ausgehenden 20. Jahrhundert begriff man die neue Ideologie als Rebellion gegen bekannte Denkmuster und traditionelle Gesellschaftsformen, den Nationalstaat und sogar gegen die Begrenzungen der Geographie - ihr virtueller Mittelpunkt ist der dezentralisierte Cyberspace. Von Anfang an beharrten die neuen Ideologen darauf, keine Ideologie zu vertreten. Doch wenn man Ideologie als säkulares Dogma definiert, dann erfüllten die Cyberpunks in San Francisco und Amsterdam die Kriterien als Ideologen genauso wie die Cybertarians im Silicon Valley oder Washington D.C.. Sie beanspruchten die Weisheit. Wer anders dachte, war noch nicht weit genug.

1993 war das Jahr, in dem sich die Begeisterung für neue Technologien in eine Ideologie verwandelte. Schon im Frühjahr wurde der "Digital Summer of Love" verkündet. Und ganz wie im Sommer der Liebe ein Vierteljahrhundert zuvor pilgerten auch diesmal die Klügsten und Neugierigsten einer neuen Generation nach San Francisco, um zu sehen, welche verheißungsvolle Ära hier anbrach.

Die Cyberpunks hatten sich die Ruinen des Industriezeitalters erobert. In Fabrikhallen entstanden digitale Firmen, Studios und Nachtclubs wie das "Toontown", in denen DJs, Programmierer und Künstler mit den neuen Medien experimentierten, während die Massen tanzten. In den viktorianischen Holzhäusern des ehemaligen Hippieviertels Haight Ashbury siedelten sich jene an, die ihre Gegenkultur als Protest gegen die weltfremden Althippies des New Age einfach "New Edge" nannten. Nächtelang reizten sie die Möglichkeiten der Heimcomputer aus, experimentierten mit neuen Kommunikationsformen. Und nachdem der Informatikstudent Marc Andreesen im Winter zuvor an der University of Illinois den ersten Webbrowser entwickelt hatte, machten sich Zehntausende daran, um aus dem binären Internet ein mehrdimensionales Medium zu schaffen. Der Generationskonflikt blieb dabei Pose, denn die Hippiebewegung der Vorväter hatte sich längst in zwei Fraktionen aufgeteilt. Die Fraktion der psychedelischen Fundis hielt es mit Carlos Castaneda. Sie akzeptierten nur den spirituellen Weg zur Erkenntnis, auch wenn sie schamanische Askese nur in homöopathischen Dosen ertrugen. Die Realos unter den Hippies neigten zum Medientheoretiker Marshall McLuhan und glaubten, dass der technologische Fortschritt ihren nonkonformistischen Ideen beim Marsch durch die Institutionen helfen würde.

Im New Edge der neunziger Jahre erlebten legendäre Figuren der Gegenkultur einen zweiten Frühling. LSD-Guru Timothy Leary predigte die Segnungen eines Hi-Tech-Spiritualismus, der auf der inzwischen anachronistischen Technologie der Virtual Reality basierte. Rockstar Todd Rundgren prophezeihte ein kreatives Schlaraffenland. Auch das erste Cyberutopia, die Onlinegemeinde "The Well", wurde von ehemaligen Aussteigern betrieben. Well-Gründer Stewart Brand war in den Sechzigern mit Ken Keseys Bus durch die Lande gezogen und hatte dann mit dem "Whole Earth Catalogue" den Grundstein für biologisch korrekten Konsum gelegt. Sein Nachfolger Figallo gehörte zu den Radikalen, die Mitte der siebziger Jahre versuchten, mit der "Farm" in Tennessee die größte Kommune der Welt aufzuziehen.

Der große Unterschied zu den vorigen Gegenkulturen war: Geld. Das floss plötzlich reichlich. Eine knappe Autostunde südlich von San Francisco hatte sich die junge Computerindustrie aufgemacht, aus dem Silicon Valley hinter Palo Alto die Welt zu erobern. Kaufmännische Genies wie Bill Gates und Steve Jobs fanden bei den Cyberpunks das kreative Potenzial für Innovationen. Zudem brachten die Subkulturellen auch ihre Visionen von einer Hi-Tech-Demokratie im Geiste Jeffersons ins Silicon Valley. Und genau diese Aura half den neuen Wirtschaftslibertariern, den Erfolg einer neuen Industrie zur gesellschaftlichen Umwälzung zu stilisieren.

Zentralorgan der neuen Ideologie war die grafisch opulente Monatszeitschrift Wired. Sie berichtete nicht nur über die technologischen Errungenschaften, sondern entwarf ein neues Weltbild, das auf den Theorien der Futuristen Alvin und Heidi Toffler beruhte. Die hatten die "Third Wave", die Dritte Welle, ausgerufen, den Beginn eines neuen Zeitalters, das mit der "Ersten Welle" der Agrar- und der "Zweiten Welle" der Industriegesellschaft aufräumen sollte. Nicholas Negroponte, Gründer des Media Lab am Massachussetts Institute of Technology, schrieb in Wired über Lebensformen, die sich von den Fesseln der Zeit, der Topographie und der Gesellschaft befreiten. Der Sozialökonom George Gilder forderte eine Abkehr von den Siedlungsformen des Industriezeitalters wie der Großstadt. Timothy Leary gab dem Technikboom eine spirituelle Dimension.

Die ideologischen Köpfe der neuen Bewegung fanden sich im Think Tank der "Progress and Freedom Foundation" (PFF) des Republikaners Newt Gingrich. Dort verfassten die Tofflers mit Publizisten wie Esther Dyson und George Keyworth sogar eine "Magna Carta for the Knowledge Age". Doch hinter der Cyberrebellion verbarg sich ein traditioneller Gedanke: das Credo vom Freien Markt, in dem die Gesellschaft durch die Naturgesetze von Angebot und Nachfrage zu einem globalen Konsens findet. Die digitale Spiritualität des Internet diente als Modell und Allegorie.

Damit näherte sich "New Edge" allerdings einer ähnlichen Weltfremdheit wie die geschmähte "New Age"-Bewegung. Plötzlich wurden demokratisch gewählte Nationalregierungen und Gewerkschaften zu Anachronismen erklärt. Ziel der Gingrich-Schule war die profitorientierte, weltweite Privatisierung staatlicher Aufgaben wie der Energie- und Wasserversorgung, Kommunikation, Verkehr und sogar Strafvollzug.

Lange regte sich kein Widerstand. Warum auch? Das Wirtschaftswunder der neunziger Jahre schien Wohlstand für alle zu bescheren. Dazu kamen die Begriffsverwirrungen des Paradigmenwechsels. Forderte die PFF nicht Fortschritt und Freiheit? Dagegen kokettierte die Linke plötzlich mit den Pioniermythen der Traditionalisten. Der einstige Songschreiber für die Grateful Dead, John Perry Barlow, gründete eine Organisation namens "Electronic Frontier Foundation", in der sich Freiheitsbegriffe von links und rechts ebenfalls vermischten. Losgelöst von den Anforderungen der analogen Welt verwandelte sich der Freiheitskampf gegen den Zugriff der Regierung auf den Cyberspace in einen radikalen Wirtschaftsliberalismus.

Auf den Zusammenbruch der neuen Märkte folgten allerdings erste Zweifel. Der 11. September zeigte den Cyberideologen ihre Grenzen. Die Skandale um Enron und Worldcom waren für die Cyberkultur ein ähnlich traumatisches Erlebnis wie der Tod von Jimi Hendrix und Janis Joplin für die Hippies, mit dem Unterschied, dass es diesmal nicht mit einem Lebensgefühl zu Ende ging, sondern gleich mit der Weltwirtschaft.

Wegbereiter für Attac

Wie alle Ideologien wird auch die Ideologie des "New Edge" weiterleben, egal, ob sie sich "Cybertarianism" oder "Third Wave" nennt. Sie wird sich als Nischenkultur einer dogmatischen Minderheit etablieren, die das Scheitern nicht akzeptieren will. Die mythische Aura des Internet allerdings ist zerstört. Das globale Netz ist keine technische Verwirklichung eines neuen Weltgeistes, sondern lediglich ein Kommunikationsmittel. Diese Rolle ist nicht zu unterschätzen. Ohne das Netz wären globale Protestbewegungen wie die Ruckus Society, Attac oder der alternative Medienverbund Indymedia nicht denkbar. Auch die interdisziplinären Gedankenspiele der Naturwissenschaften, die in den letzten Jahren enorme Leistungen vollbracht haben, wären ohne das Netz unmöglich. Das Internet mag nicht zum Utopia taugen. Doch es ist ein hervorragendes Werkzeug auf dem Weg dorthin.

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