Das Internet (9):Bin schon draußen

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Cyberspace, Firewall, Chatroom und Portal: Das Internet hat die Stadt nicht ersetzt - sondern sich nur ihre Metaphern geliehen.

Jörg Häntzschel

(SZ vom 3.1.2003) - Als das Internet aus den Tüftlerghettos hinauswuchs und die ersten Computerkäufer auf ihren neuen Geräten Web-Browser vorfanden, standen sie vor einem Problem: Wie ließ sich das Konzept eines weltweiten Informations- und Kommunikationsnetzes begrifflich fassen? Wie konnte man das Internet mit seinen abschreckenden www//:http-Adressen metaphorisch so überformen, dass auch Laien sich dort zu Hause fühlen würden?

Wie konnte man das Internet mit seinen abschreckenden www//:http-Adressen metaphorisch so überformen, dass auch Laien sich dort zu Hause fühlen würden? Die Antwort lieferte William Gibsons Roman "Neuromancer": Sie hieß "Cyberspace". (Foto: N/A)

In einer Serie durchstreifen wir das Internet, erzählen, wie es wurde, was es ist, und was aus ihm werden könnte. Heute geht es um virtuelle Urbanität und reale Städte.

Die Antwort lieferte William Gibsons Roman "Neuromancer": Sie hieß "Cyberspace". Entfacht vom utopischen Versprechen des Begriffs setzte in diesem "Raum" ein wahrer Bauboom ein: "Firewalls" wurden hochgezogen, "Chat rooms", Shops und Cafés eingerichtet und "Datenautobahnen" planiert, auf denen die "Netizens", die Netzbürger "surften". Eine funkelnde Metaphorik hatte aus dem Netz eine Stadt gemacht, die man über "Portale" betrat und verließ, und die man mit Hilfe von "Explorer" und "Navigator" erforschte wie eine fremde Kultur. Es war ein modernes Babel: voller Exotik, Freizügigkeit und Gefahren. "Cybersex", Identitätsspiele und das ganze Wissen der Welt fanden sich dort. Das Internet wurde zum Sehnsuchtsort, zum aufregenden Paralleluniversum.

Etwa zur gleichen Zeit kursierte eine weitere Metapher, die vom "global village". Schon in den sechziger Jahren hatte Marshall McLuhan die Auflösung der Ländergrenzen vorausgesagt, nun schien sich die Prophezeiung zu erfüllen.

Die Metaphern beschrieben unterschiedliche Phänomene, doch beide implizierten dieselbe weit verbreitete These: Die alten Zentren, so hieß es, würden ihr Monopol für Kultur, Handel und Kommunikation verlieren. Fast überall auf der Welt werde es Zugang zum Telefonnetz und damit zum Internet geben, deshalb werde es nicht länger nötig und erstrebenswert sein, in teuren, überfüllten Metropolen zu leben. Firmen könnten ihre Hauptquartiere in der tiefsten Provinz aufschlagen. Ähnlich wie das Auto werde auch das Internet die Stadt verändern. Die Krise der Innenstädte in den neunziger Jahren, die Rodney-King-Krawalle in Los Angeles, das Zusammenbrechen des Warschauer Pakts oder die Überlegungen zum "Euro"-Raum: Allerorten verstärkte sich der Eindruck, dass die bisherige Geographie der westlichen Welt in Auflösung begriffen sei und durch etwas Neues ersetzt würde.

Zur gleichen Zeit beobachtete man einen vermeintlichen Großangriff des Internets auf die Stadt: Online-Banking und Internet-Händler wie Amazon drohten, ganze Branchen zu vertreiben. Bald, so schien es, werde es kaum noch einen Grund geben, auf der Straße seinen Geschäften nachzugehen, etwas zu kaufen, und überhaupt an dem großen Erfahrungs-, Kommunikations- und Warentauschsystem der Stadt teilzunehmen. Dass zur gleichen Zeit mit Projekten wie der Disney-Stadt Celebration in den USA der eskapistische New Urbanism Furore machte, und mit dem New Yorker Times Square die Musealisierung und Verkünstlichung der Stadt fortschritten, schien den Trend zu bestätigen. Stadt, so war zu befürchten, gebe es in Zukunft nur noch aus Plastik, in der hysterischen Pastellversion aus der "Truman Show".

Fast nichts davon ist wahr geworden. Während die Zahl der Internetanschlüsse exponentiell anstieg, blühten die Städte wie selten. Wenn etwas ihre Vitalität gefährdete, dann ihr eigener Erfolg. In den eben noch verödenden Innenstädten explodierten die Preise. Es wurde investiert, renoviert und gebaut. Leben im Loft, nicht auf dem Land, wurde zum kollektiven Ideal. Und mit dem Reichtum, der sich an der Börse oder neuen Internet-Start- ups verdienen ließ, konnten es sich viele auch leisten. Die "Roaring Nineties" wurden zur Glanzzeit urbaner "sophistication".

Hightech-Jobs in der Provinz? Davon war wenig zu spüren. Die anspruchsvollen Firmen blieben in den Metropolen oder in neuen Zentren wie dem Silicon Valley. Sollte die Rolle der Stadt als Marktplatz für Informationen und Knotenpunkt des Datentransfers wirklich geschwächt worden sein, wurde sie als Ort gestärkt, an dem der Mensch die physische Nähe seinesgleichen und das Spektakel der Menge sucht. Man geht in die Stadt, um die Nicht-Virtualität zu erleben.

Während die reale Stadt sich bravourös behauptete, verlor die Stadtmetaphorik, die man dem Internet übergestreift hatte, an Kraft. Nur Leute, die noch nie "im Internet" waren, sprechen heute noch vom Cyberspace. Niemand, der etwas auf sich hält, "surft" dort mehr. Die Metaphern erübrigten sich in dem Maße, in dem uns das Internet vertrauter wurde. Wir wissen, dass es kein mythischer Ort ist, den es zu entdecken gilt, sondern ein unübersichtliches Verzeichnis oder ein Buch, an dem ständig geschrieben wird. Die neuere Ikonographik des Internet folgt dieser Einsicht. Statt auf Fiktionen von gebautem Raum hat sie sich auf stilisierte Listen und Karteien verlegt. Wir sagen "Websites" - und wir denken an Seiten, nicht an Plätze.

Um das frühe Internet zu durchwandern, musste man das Einwahlquietschen erdulden, dann wurde das Password geprüft, und die Uhr tickte. Diese noch immer von der Mehrheit der privaten Internetbenutzer absolvierte Prozedur bestätigt den Raumcharakter des Internet, wo man kontrolliert wird wie an der Grenze, und seine Klassifizierung als Vergnügen, für das man pro Minute zahlt wie in der Peepshow. Doch diese Form der Internetverbindung schwindet. Der Anschluss über Fernsehkabel oder DSL-Leitung breitet sich in Amerika und Europa rasch aus. Ein DSL-Anschluss kostet in den USA monatlich nur um die 40 Dollar. Man ist immer online, mit der mehrfachen Übertragungsgeschwindigkeit des Telefonmodems. Nie wieder steigt man durch Portale, nie wieder wird man nach seinem Password gefragt. Wer immer im Internet ist, stellt fest, dass die Unterscheidung in Innen und Außen nie einen Sinn hatte.

Doch auch das Breitband-Internet teilt noch die meisten Charakteristika des Einwahlverfahrens: Es fesselt den Besucher an den Schreibtisch und enthebt ihn seiner sozialen und geographischen Kontexte. Der Internet-Benutzer in Schwabing starrt genauso isoliert in den Bildschirm wie der in Arizona.

Bei der neuen, drahtlosen Variante des Internet-Anschlusses ist das anders. Die Wi-Fi (Wireless Fidelity) genannte Technologie, die nach ihrer explosionsartigen Ausbreitung in den USA nun auch in Europa populär wird, basiert auf denselben Funkfrequenzen wie die drahtloser Telefone. Statt des Computers hängt ständig eine Basisstation am Netz. Beliebig viele Computer können mit einer entsprechenden PC-Karte die Signale bis zu 50 Meter weit entfernt auffangen. Neuere Computer wie die jüngsten Apple Powerbooks sind mit Wi-Fi-Empfängern serienmäßig ausgestattet.

Und es hat nicht lange gedauert, bis die neue Technologie die Büros verlassen hat. Öffentliche und halböffentliche Netzwerke, in die man sich umsonst oder gegen Gebühr einklinken kann, breiten sich überall aus. Es sind nicht nur Idealisten- oder Universitätsnetzwerke, nicht nur "Hotspots" in Starbucks-Filialen oder Airport-Lounges. Auch an öffentlichen Orten wie dem Bryant Park oder dem Tompkin Square in New York werden die neuen Netze installiert. Dort bieten sie nicht nur schnellere Übertragungsgeschwindigkeiten als zu Hause, sondern auch frische Luft, Sonne und vor allem: die Gesellschaft anderer Menschen. Bald wird ein gutes Wi-Fi-Netzwerk ein ebenso starkes Argument für einen Wohnort sein wie ein U-Bahn-Anschluss.

Wenn es also je eine Rivalität von Internet und Stadt gab, ging letztere als Sieger daraus hervor. Das Internet hat sich aus der Isolation der Büros und Arbeitszimmer befreit, doch es befestigt die Stadtstrukturen, anstatt neue zu schaffen: Mit seiner geringen Reichweite lohnen sich Wi-Fi-Netze nur an stark frequentierten Orten, und die findet man vor allem in den lange totgesagten Innenstädten. So verkoppelt sich in diesem Medium das Globale mit dem Lokalen, die virtuellen Orte mit den realen. Schon heute gibt es Stadtpläne von Berlin-Mitte oder Manhattan, in denen kleinere und größere Kreise die Netze und ihre Reichweite verzeichnen. So erlaubt gerade das Medium der Ortlosigkeit und der Anonymität ein neues hybrides Flanieren, ein neues In-der-Welt-Sein.

Wer heute ins Internet will, geht am besten raus.

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