Wissenschaft:"Eine Art von Selbstzensur"

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Die Hildesheimer Professorin Marianne Kneuer wurde soeben an die Spitze des Weltverbandes der Politikwissenschaftler gewählt. Ein Gespräch über Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit und Publikationsdruck.

Interview von Paul Munzinger

SZ: Frau Kneuer, Sie sind gerade an die Spitze des politikwissenschaftlichen Weltverbandes gewählt worden. Was macht Ihr Verband?

Marianne Kneuer: Die IPSA ist die weltweite Vereinigung aller Politikwissenschaftler, wir haben fast 4000 Mitglieder, dazu etwa 50 nationale Vereinigungen. Wir sind 1949 in Paris unter der Ägide der Unesco gegründet worden, quasi als Nachkriegsprodukt. Die Idee war es, intellektuelle Grundlagen zu legen für die demokratische und friedliche Entwicklung der Gesellschaften und durch wissenschaftlichen Austausch dazu beizutragen, die Nationalismen und Gegensätze zwischen den Staaten zu überwinden.

Die Nachkriegsordnung ist so bedroht wie lange nicht. Was kann die Politikwissenschaft dazu beitragen, sie zu schützen?

Wir bieten als Organisation sehr ausgefeilte Formate für den wissenschaftlichen Austausch. So ist gewährleistet, dass wir im Gespräch bleiben, auch mit Ländern, wo populistische oder nationalistische Strömungen wieder stark werden. Die Netzwerke sind seit Jahrzehnten etabliert, sie müssen nicht, wie noch 1949, erst geschaffen werden. Aber es stimmt: Wir haben es heute wieder mit Nationalismen zu tun, mit neu entstandenen Antagonismen. Unsere Mission ist wieder sehr aktuell geworden.

Wo merken Sie das besonders?

Worum wir uns in letzter Zeit vor allem kümmern mussten, ist die Wissenschaftsfreiheit. Wir stellen nicht nur offene Bedrohung fest, sondern auch, dass Kollegen in bestimmten Ländern zu einer Art von Selbstzensur übergegangen sind. Wenn sie merken, dass ihre Forschungsergebnisse die Regierung stören könnten, veröffentlichen sie sie nicht, um sich zu schützen.

Von welchen Ländern sprechen Sie?

Es ist bekannt, dass viele Wissenschaftler in der Türkei unter Beobachtung stehen und entlassen wurden. Doch das Problem betrifft viele Länder. Diese Arbeit ist hochsensibel. Daher muss man auch darauf achten, Kollegen nicht in Gefahr zu bringen.

Der wissenschaftliche Austausch ist die eine Seite, die andere ist der Austausch mit der Gesellschaft. Der deutschen Politikwissenschaft wird häufig vorgeworfen, zur politischen Gegenwart zu wenig zu sagen zu haben.

Diesen Vorwurf kann man nicht nur der deutschen Politikwissenschaft machen. Wir sind auf der einen Seite gefordert, zu politischen Entwicklungen Stellung zu nehmen. Andererseits stehen wir unter einem unheimlichen Druck, Projekte einzuwerben und zu publizieren. Zwischen diesen Anforderungen fühlen sich viele manchmal zerrissen. Und welche ethischen Probleme das mit sich bringt, zeigen die Fake-Zeitschriften und -Konferenzen, die zuletzt wie Pilze aus dem Boden geschossen sind.

Sie meinen die "Raubjournale", die gegen Bezahlung ungeprüfte Beiträge drucken.

Sie nutzen den Publikationsdruck aus, unter dem gerade junge Wissenschaftler und Wissenschaftler aus dem globalen Süden stehen. Wir werden im kommenden Jahr unsere Mitglieder befragen, wo es Probleme gibt - sowohl im Bereich akademische Freiheit als auch bei den ethischen Fragen. Bevor wir Maßnahmen beschließen, brauchen wir als erstes Aufklärung.

© SZ vom 06.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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