Sprachprobleme von Kindern:Schock vor der Einschulung

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So läuft das mit den Buchstaben: Der kleine Mathis erspielt mit seiner Logopädin die richtige Aussprache. (Foto: Kathrin Schwarze-Reiter)

"Tugelfisch" und "Täse": Jeder vierte Junge und jedes fünfte Mädchen muss inzwischen wegen Sprachproblemen zum Logopäden. Ärzte und Therapeuten raten zu frühem Eingreifen bei Auffälligkeiten - sehen aber auch übereifrige Eltern am Werk.

Von Kathrin Schwarze-Reiter

Mathis wirft die Angel aus. Augenblicklich hängt ein Pappfisch daran. "Was ist das denn für ein Fisch, Mathis?", fragt Selina Herbst, die das Angelspiel aufgebaut hat. "Ein Tugelfisch", sagt der Vierjährige. Ihm fällt es schwer, den Buchstaben K zu artikulieren. Phonologische Störung nennt das die Logopädin Herbst. Mathis hingegen hat kein Problem damit, für ihn heißt es eben "Täse" und nicht "Käse". "Ich war richtig dankbar", erinnert sich Mathis' Mutter Miryam, als die Kindergärtnerin sie auf die Sprechschwierigkeiten ihres Sohnes hinwies. "Mein Mann und ich dachten, dass sich das schon gibt mit der Zeit. Wahrscheinlich hätten wir erst einmal nichts unternommen." Nun übt Mathis schon das sechzehnte Mal im Münchner Logopädiezentrum von Claudia Grönke. "Ich bin gerne hier, weil wir so viel spielen", sagt der Vierjährige.

Wie Mathis bekommen immer mehr Kinder eine logopädische Therapie verschrieben. Das Wissenschaftliche Institut der Krankenkasse AOK hat vor Kurzem erschreckende Zahlen veröffentlicht: Die Anzahl von Patienten unter 15 Jahren nahm zwischen 2007 und 2012 um 36.000 auf 193.000 pro Jahr zu. Jeder vierte sechsjährige Junge geht inzwischen zum Logopäden.

Oft fallen die Defizite bei den Einschulungstests auf. Von den gleichaltrigen Mädchen brauchen etwas weniger eine Therapie: 2012 waren es 17 Prozent. Die meisten der behandelten Kinder leiden unter Stottern, Sprach-, Sprech- oder Schluckstörungen. Die Gründe sind Beeinträchtigungen wie Probleme mit den Muskeln im Mund, eine zu große Zunge, schlechtes Gehör oder Syndrome wie Trisomie 21. Bei acht bis zwölf Prozent dieser Kinder wird aber kein ersichtlicher Grund gefunden. Wächst da eine lispelnde, stotternde und nuschelnde Schülergeneration heran?

"Noch zu viele unbehandelt"

Fakt ist, es werden Rezepte häufiger und für längere Zeiträume verschrieben als früher. Es sind dennoch immer noch zu wenig, meinen die einen - die Logopäden. Die andere Seite - viele Kinderärzte - befürchtet, dass Kinder übertherapiert werden. Erwartungsgemäß empfinden die Logopäden die Zahlen der AOK-Studie alles andere als erschreckend.

"Früher wurde viel zu wenig gefördert, heute noch lange nicht genug", sagt Claudia Grönke, die Leiterin des Münchner Logopädiezentrums, an dem auch Mathis übt. "Wenn man bedenkt, dass etwa sechs bis acht Prozent der Kinder unter 14 Jahren eine Sprachentwicklungsstörung und weitere 20 Prozent eine Sprachentwicklungsschwäche haben, bleiben immer noch zu viele unbehandelt." Das sieht die Sprecherin des Bundesverbandes der Logopäden, Margarete Feit, ähnlich. Insgesamt würden zwar mehr Kinder behandelt, diese aber mit weniger Aufwand. Manch notwendige Therapie werde nicht verschrieben, weil Kinderärzte ihre Richtgrenzen nicht überschreiten wollen, um keine Honorarkürzung zu riskieren.

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Kinderärzte spielen den Ball zurück: Mitunter hätten Logopäden ein Interesse, die Therapie möglichst lange fortzuführen. "Sie sind ein selbsterhaltendes System", sagt ein ehemaliger Hamburger Oberarzt der Kinder- und Jugendmedizin, der seinen Namen nicht nennen möchte. "Würden sie das Ende einer Therapie anraten, würden sie sich selbst arbeitslos machen."

Es gibt immer mehr Logopäden. Die Anzahl der Mitglieder im Bundesverband stieg in den vergangenen zehn Jahren um ein Drittel auf 12.000. Ihm sei in seiner Laufbahn bisher erst ein Arztbrief untergekommen, in dem der Logopäde zu einer Beendigung der Therapie geraten habe, sagt der frühere Oberarzt. In allen anderen Fällen wurde auf eine Verlängerung des Rezeptes gehofft. Auch eine Münchner Logopädin, die anonym bleiben will, erinnert sich, dass sie mehrmals von ihrer Chefin angehalten wurde, ein Kind bei der Stange zu halten, das eigentlich schon geheilt war.

Kinderärzte machen zudem gestiegene Ansprüche der Eltern für die Entwicklung verantwortlich. Manche Eltern würden sich schlecht betreut fühlen, wenn sie ihre Praxis ohne Rezept verlassen, sagt der Hamburger Arzt. Auch die Münchner Logopädin erlebt Eltern manchmal regelrecht sauer, wenn sie ihnen mitteilt, dass keine Folgetherapie mehr nötig sei. Lieber zu viel therapiert, denken manche Eltern.

Käfig, Katze und Koalabär

Mathis' Mutter Miryam tickt da anders. Ihr wäre es lieber, wenn ihr Erstgeborener am Nachmittag mit seinen beiden jüngeren Brüdern zu Hause spielen könnte, als die Aussprache von Käfig, Katze und Koalabär zu üben. "Ohne nachgewiesene Sprechstörung würde ich meinen Sohn nicht zur Therapie schicken." Sie wollte aber auf keinen Fall warten, bis Mathis in die Schule kommt. "Wenn er zeitgleich noch schreiben lernen und sich mit den neuen Mitschülern auseinandersetzen muss, bedeutet das Stress." Dann entsteht ein Leidensdruck, den Mathis jetzt noch nicht kennt.

Besteht tatsächlich eine Sprachstörung oder Sprachschwäche - darin sind sich Logopäden und Kinderärzte überraschend einig - muss schnell gehandelt werden. So lässt sich verhindern, dass sich die Schwäche verfestigt, und die Therapie kann in vielen Fällen bald wieder abgeschlossen werden. "Bemerken Eltern erst kurz vor Schulstart, dass ihr Kind nicht richtig sprechen kann und damit nicht schulreif ist, haben alle Frühwarnsysteme versagt", sagt Margarete Feit. Dass die meisten Kinder mit sechs Jahren zum Therapeuten kommen, zeige doch, dass zu viele Kinder im Kindergarten unbehandelt blieben. Seit Jahren arbeitet der Verband an Richtlinien für Kinderärzte, wann ein Kind therapiert werden muss. "Leider haben die Sprachtests in den Kindergärten und die Sprachfördermaßnahmen in der Kinderbetreuung bisher nicht den gewünschten Effekt gezeigt."

Bei Mathis hat man rechtzeitig mit der Therapie begonnen. Er wird vermutlich nur noch ein Rezept und somit zehn weitere Stunden benötigen. Die 45 Minuten bei Frau Herbst findet er nun schon "cool". Und nicht mehr "tool".

© SZ vom 27.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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