Sexuelle Gewalt:Angemacht, bedrängt, gezwungen

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In jeder Schulklasse sitzen Opfer sexueller Gewalt - meistens Mädchen. Die Täter sind oft gleichaltrig, männlich und Mitschüler.

Von Susanne Klein

Internate, Schulen, Heime - diese Orte sind durch die Missbrauchsskandale der letzten Jahre bei der Erforschung sexueller Gewalt immer stärker in den Blick geraten. Schon die zweite repräsentative Studie in diesem Jahr untersucht, welche Erfahrungen Schüler mit sexuellen Übergriffen machen, wie sie die Täter einordnen und wem sie sich mitteilen. Nach einer im Juni veröffentlichten Studie des hessischen Kultusministeriums präsentiert an diesem Montag das Deutsche Jugendinstitut ähnliche Ergebnisse in einer Broschüre für Schulen auf seiner Website. Mehr als 4300 Neuntklässler aus 128 Schulen in vier Bundesländern wurden im Auftrag des sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts befragt.

Knapp 60 Prozent der Jugendlichen haben demnach in den drei Jahren vor der Befragung mindestens einmal sexuelle Gewalt erlebt. Das Spektrum reicht von Witzen, Gerüchten und verbaler Belästigung über Exhibitionismus oder Konfrontation mit Pornografie bis hin zu körperlichem Bedrängen und sexuellen Handlungen unter Zwang. Die Häufigkeiten unterscheiden sich nach Schularten: Von mindestens einem erlittenen Übergriff mit Körperkontakt berichten 15 Prozent der Hauptschüler, zehn Prozent der Realschüler, acht Prozent der Gymnasiasten und zwölf Prozent der Gesamtschüler.

Mädchen geraten insgesamt öfter in belastende Situationen als Jungen, die schwereren Formen sexueller Gewalt mit körperlichen Übergriffen erleiden sie sogar drei Mal häufiger. Neun von zehn Tätern in diesen Fällen sind den Mädchen zufolge männlich. Auch für Taten ohne Körperkontakt machen sowohl Mädchen als auch Jungen häufiger männliche Täter verantwortlich. Erleiden hingegen Jungen sexuelle Gewalt mit Körperkontakt, dann sind ihre Peiniger etwas öfter weiblich als männlich.

"War der Täter gleichaltrig, dann haben die Opfer auch eher Gleichaltrigen von der Tat erzählt. War er erwachsen, haben sie eher Erwachsenen davon erzählt", sagt Stefan Hofherr, Autor der Studie. Der Soziologe berichtet, dass die Täter meistens Jugendliche waren, überwiegend sogar Mitschüler. Viele Situationen hätten denn auch in der Schule stattgefunden. Trotzdem habe im Schnitt nur jedes zehnte Opfer mit einem Pädagogen über seine Erfahrung gesprochen. "Aber wir haben in unserer Analyse auch herausgefunden, dass sich mehr betroffene Schüler den Lehrkräften anvertrauen, wenn die Schule zuvor in die Fortbildung des pädagogischen Personals zum Thema sexuelle Gewalt investiert hatte", ergänzt Heinz Kindler, Leiter der Fachgruppe Familienhilfe und Kinderschutz im Jugendinstitut. Solche Erkenntnisse sind dem Psychologen wichtig, soll doch die Studie dabei helfen zu zeigen, wo Schulen etwas bewegen können.

Jungen sind seltener betroffen. Und auch weniger motiviert, sich mit dem Thema zu befassen

Denn erst wenn Menschen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, andere ins Vertrauen ziehen, ist Hilfe von außen möglich. Die Jugendlichen in der Studie, im Schnitt 15,3 Jahre alt, haben ihr Erlebnis aber oft für sich behalten. 14 Prozent der Mädchen, die wider Willen geküsst, betatscht, an den Geschlechtsteilen berührt oder zu sexuellen Handlungen genötigt worden sind, haben niemandem davon erzählt. Viel höher ist dieser Anteil bei den Schülern: 35 Prozent der Jungen ohne Migrationshintergrund und 50 Prozent derjenigen mit Migrationshintergrund haben körperliche Übergriffe lieber verschwiegen als sich mitzuteilen. Die anderen tauschten sich überwiegend mit Gleichaltrigen aus, ihre Zahl ist jedoch nur halb so hoch wie bei den Mädchen. Besonders im Familienkreis sind Jungen schweigsam: Nur vier Prozent legen ihr Erlebnis offen, bei den Mädchen sind es 32 Prozent. Auch diese Befunde sind ein Hinweis an die Lehrkräfte: Jeder zweite bis dritte betroffene Junge und jedes siebte betroffene Mädchen verbergen ihre - womöglich traumatisierende - Erfahrung und verpassen so die Chance verstanden, getröstet oder therapeutisch beraten zu werden.

"Wissen von Schülerinnen und Schülern über sexuelle Gewalt in pädagogischen Kontexten" - der Titel im Soziologendeutsch signalisiert, dass die Neuntklässler auch als Zeugen befragt wurden: Deutlich mehr von ihnen haben Übergriffe beobachtet als persönlich erlitten. Das sei deshalb bemerkenswert, so Stefan Hofherr, weil auch indirekt miterlebte sexuelle Gewalt das Lernklima beeinträchtigen kann. Wie gut sich die 15-Jährigen über Sexualität informiert fühlen, wurde ebenfalls ermittelt. Fast alle erinnern sich, im Unterricht die Geschlechtsorgane von Mann und Frau durchgenommen zu haben, aber nur 30 Prozent haben dort über sexuelle Gewalt gesprochen. "Da kommt die Aufgabe der Schule: Sexuelle Bildung sollte sie auch jenseits der biologischen Abläufe vermitteln", sagt Heinz Kindler.

Vor allem Mädchen seien an dem Thema sehr interessiert, wie Stefan Hofherr in einer rheinland-pfälzischen Schule beobachtet hat. Während die Schülerinnen an dem Studientermin begeistert teilgenommen hätten, wären die Jungen schnell unruhig geworden. "Sie fingen dann an aus ihren Sichtschutzpappen zum Abschirmen der Fragebögen Türme zu bauen."

Psychologisch könne er das gut nachvollziehen, sagt Heinz Kindler. "Ich denke, dass Jungen sich einerseits weniger bedroht fühlen durch sexuelle Gewalt und andererseits fürchten, dass die Beschäftigung mit dem Thema zu Konfrontationen führen könnten. Dass die Mädchen ihnen vorwerfen: So wie ihr uns anmacht, das geht nicht." Das Selbstbild kritisch in Frage stellen zu lassen sei eben nicht gerade motivierend. "Aus meiner Erfahrung mit Schulklassenseminaren weiß ich aber, dass man Jungen trotzdem für das Thema gewinnen kann."

© SZ vom 11.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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