Europäische Zukunft:Der Kitt, der Europa zusammenhält

Lesezeit: 2 Min.

Die EU braucht ein neues Leitbild für die Post-Brexit-Ära. Die Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenzen Deutschlands und Frankreichs hätten da eine Idee. Ein Gastbeitrag.

Von Horst Hippler und Gilles Roussel

Wenn die EU-Staatschefs am kommenden Samstag in Rom zusammenkommen, um das 60-jährige Bestehen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu begehen, wird das keine freundliche Feierveranstaltung werden. Es wird der nächste Abschnitt im Dauertest der EU auf ihre Widerstands- und Entwicklungsfähigkeit. Gesucht wird ein Leitbild für die Union nach dem Brexit. Die Hochschulrektorenkonferenzen Deutschlands (HRK) und Frankreichs (CPU) sind überzeugt, dass dieses Leitbild die europäische Wissensgesellschaft sein sollte.

Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, hat Anfang März ein Weißbuch veröffentlicht, das fünf Vorschläge zur zukünftigen Ausrichtung der Staatengemeinschaft enthält. Die Themen Bildung, Forschung und Innovation tauchen in dem Strategiepapier zwar auf, nachdem sie zuvor von der politischen Prioritätenliste der EU-Kommission verschwunden zu sein schienen. Aber es ist nicht genug, sie im einleitenden Teil als "Treibrad Europas" zu bezeichnen, wenn diese Politikbereiche in den konkreten Umsetzungsvorschlägen weitgehend ausgespart bleiben.

Erasmus kommt in Junckers Plan nicht vor - was für ein Versäumnis

Gerade in Zeiten der Krise sollte sich die EU auf ihre Stärken und Werte besinnen. Die europäischen Mobilitätsprogramme sowie die Forschungs- und Innovationsförderung sind echte Erfolgsgeschichten: Studieren und lernen in Europa hat die EU mit dem Erasmus-Programm für inzwischen mehr als drei Millionen Studierende, Auszubildende und Lehrer erlebbar gemacht. Mehr als hunderttausend Nachwuchsforscher haben mit Hilfe des Marie-Curie-Austauschprogramms ihre Qualifikation in einem anderen Land gesteigert und interkulturelle Erfahrungen gesammelt. Der erst 2007 gegründete Europäische Forschungsrat (ERC) fördert brillante Wissenschaftler und ist zu einem weltweit anerkannten Maßstab für Forschungsqualität geworden. Das EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation, Horizont 2020, erlaubt einer großen Zahl von europäischen Forschern die Zusammenarbeit mit Kollegen aus Wissenschaft und Wirtschaft. Was für ein Versäumnis, dass das Austauschprogramm Erasmus nicht einmal in Junckers Visionen für Europas Zukunft erwähnt wird!

Wenn Bildung, Forschung und Innovation keine klareren Rollen für die Zukunft der europäischen Politik erhalten, könnten sie im Zuge der Neuausrichtung der EU bei der Mittelvergabe unter die Räder kommen. Das ginge zulasten der Wettbewerbsfähigkeit unserer Gesellschaften und des europäischen Zusammenhalts.

Bildung schafft die Grundlage einer europäischen Kultur

Aber mit ausreichenden Ressourcen allein ist kein Staat zu machen - und erst recht keine Europäische Union, keine europäische Wertegemeinschaft. HRK und CPU schlagen deshalb eine Bildungs-, Forschungs- und Innovationsgemeinschaft als europäisches Zukunftsprojekt vor. Derzeit sind Bildungs- und Ausbildungsfragen einerseits und Forschungs- und Innovationsfragen andererseits zwei völlig getrennte Politikfelder auf EU-Ebene. Das führt etwa dazu, dass EU-geförderten Forschern Fördermittel gekürzt werden, wenn sie gleichzeitig lehren wollen. Das muss sich ändern. Innovative, auch praxisnahe Ideen entstehen sowohl aus Forschungsergebnissen als auch in den Köpfen ausgebildeter Hochschulabsolventen.

Bildung sollte in diesem Zusammenhang in ihrem umfänglichen Sinne verstanden werden. Sie legt die Grundlagen für die Fähigkeit zu kritischem Denken, für bürgerliches Engagement und für interkulturelles Verständnis. Sie schafft die Grundlage für das Bewusstsein einer gemeinsamen europäischen Kultur und ist damit der wichtigste "ideelle Kitt" einer europäischen Gesellschaft, deren Bürger keine gemeinsame Muttersprache besitzen.

Eine solche Strategie darf angesichts der Unterschiedlichkeit der nationalen Kulturen und der Hochschul- und Innovationssysteme nicht allein ein Projekt der politischen Elite in Europa sein, sondern muss auch "von unten" angegangen werden. Die politischen Ebenen in der EU müssen hier gemeinsam agieren. Die Europäische Kommission könnte die Rolle eines Moderators und Beraters übernehmen. In Deutschland wären Bund, Länder und Hochschulen als Initiatoren gefragt. In Frankreich sind es die Regierung und die Universitäten. Wissenschaftler, Studierende, Wirtschaftsvereinigungen und andere Beteiligte müssten angemessen einbezogen werden.

Europa kann durch eine Strategie für Bildung, Forschung und Innovation viel gewinnen. Gemeinsam können wir eine starke europäische Identität herausbilden, die unsere ökonomische Kraft und unser kulturelles Verständnis füreinander stärkt, aber unsere Unterschiedlichkeit respektiert. Diese Aspekte sollten eine zentrale Rolle in der Debatte spielen, wenn in und nach Rom weiter am nächsten Kapitel für Europa geschrieben wird.

© SZ vom 20.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: