Eisenach:Stadt der Schulabbrecher

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Auf der Wartburg in Eisenach übersetzte Martin Luther einst im Eiltempo das Neue Testament ins Deutsche, heute schaffen erschreckend viele Schüler in der Stadt nicht einmal einen Hauptschulabschluss. (Foto: Martin Schutt/dpa)

Nirgendwo in Deutschland verlassen mehr Jugendliche die Schule ohne Abschluss als in Eisenach. Warum ist das so? Und warum will niemand darüber sprechen?

Von Max Gilbert

Im Sommer dieses Jahres veröffentlichte die Caritas eine Untersuchung zur Zahl der Schulabgänger ohne Hauptschulabschluss. Die in Deutschland höchste Quote findet sich im Westen Thüringens, in Eisenach. 2017 verließen in der Wartburgstadt laut Studie knapp 19 Prozent der Jugendlichen die Schule, ohne einen Abschluss erworben zu haben. In anderen Worten: fast jeder fünfte Schüler. Der Landesdurchschnitt von Thüringen liegt bei etwa neun, der Bundesdurchschnitt bei knapp sieben Prozent. Die Caritas-Studie zeigt auch, dass sich die Quote in Eisenach in nur zwei Jahren mehr als verdoppelt hat, 2015 lag sie noch bei gut acht Prozent.

Was ist da los, in Eisenach?

Es ist ein Fragezeichen, wie es am Anfang jeder Recherche steht. Das Besondere an Eisenach: Das Fragezeichen ist hier am Ende der Recherche größer als am Anfang. Die Stadt Eisenach, der Träger der dortigen Schulen, kommt in eigenen Berechnungen zu dem Ergebnis, dass 16 Prozent der Schulabgänger keinen Abschluss haben. Das ist etwas weniger als bei der Caritas, das bedeutet aber immer noch: Etwa jedes sechste Kind, das hier die Schule besucht, verlässt sie am Ende ohne Abschluss in der Hand. Für viele Betroffenen sind die Folgen dramatisch: Wer keinen Schulabschluss vorweisen kann, hat es schwer, einen Job zu finden und damit Arbeitslosigkeit und Armut zu entgehen.

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Die Stadt nennt mehrere Ursachen für die vielen Schulabgänger ohne Abschluss. Zum einen konzentrierten sie sich an zwei Schulen mit "schwierigem" sozialen Umfeld. Zum anderen habe die Stadt 2015 eine überdurchschnittliche Zahl schulpflichtiger Flüchtlinge aufgenommen. Außerdem fließe in die Statistik auch das in Eisenach angesiedelte Förderschulzentrum ein, an dem es ebenfalls eine hohe Zahl an Abgängern ohne Hauptschulabschluss gebe.

Interviewanfragen werden ignoriert, auch Telefonate bringen nichts

Der Zuzug an Geflüchteten spiegelt sich auch in der Caritas-Studie wider. Die Prozentzahl ausländischer Schüler in Eisenach hat sich demnach seit 2015 verdoppelt, von vier auf acht Prozent. Ähnliche Zuwächse verzeichnen aber auch andere Kommunen, doch sie führen keineswegs überall zu einer höheren Zahl von Schulabgängern ohne Abschluss. Dazu kommt: Der Ausländeranteil an Eisenacher Schulen liegt auch mit acht Prozent unter dem Bundesdurchschnitt von etwa zehn Prozent. Der Anteil der Förderschüler in der Stadt ist seit 2015 etwa gleich geblieben.

Ohne Frage: Gerade in einer kleinen Stadt wie Eisenach mit gut 40 000 Einwohnern können eine Handvoll Schüler schon eine messbare Veränderung ausmachen. Aber erklären sie eine Verdopplung der Quote innerhalb von nur zwei Jahren?

Das Problem der Schulabbrecher ballt sich in Eisenach an der Oststadtschule, einer Gemeinschaftsschule, und der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Schule, einer sogenannten Regelschule, einer Kombination aus Haupt- und Realschule. Seit Sommer 2016 erhalten beide Fördermittel aus dem Europäischen Sozialfonds, weil damals jeweils mehr als zehn Prozent der Schüler ohne Abschluss abgingen. Deshalb werden zusätzliche Sozialarbeiter eingesetzt, die helfen sollen, dass der Anteil der Abgänger ohne Abschluss "erheblich gesenkt" wird. Die Förderung wurde bis 2021 verlängert.

Erheblich gesenkt wurde die Quote nicht, im Gegenteil. Was läuft schief? Das würde man gerne mit den Schulen klären. Doch Interviewanfragen, per Telefon und per Mail, werden nicht beantwortet. Oder es heißt aus dem Sekretariat, man solle warten, bis jemand sich meldet. Man wartet vergeblich. Das gleiche Bild, wenn man bei den Sozialarbeitern anruft: "Da muss ich erst meinen Vorgesetzten fragen", "Ich darf ohne Erlaubnis mit niemandem sprechen", heißt es immer wieder.

Der Leiter des Schulamts Thüringen West, Wolfram Abbé, antwortet schriftlich: "Armut und die sich daraus ergebenden Folgeprobleme" seien Hauptursachen der Situation in Eisenach. Jeder betroffene Schüler habe eine eigene Geschichte, es gebe viele Eltern mit Alkohol-, Drogen- oder psychischen Problemen. Bei manchem Schüler sei es schon ein Erfolg, wenn er überhaupt die Schule besuche, auch wenn er den Abschluss nicht schaffe. Abbé betont, Kommune und Land nähmen das Problem ernst. Man versuche, mit Schülern, Lehrern, Sozialarbeitern eng zusammenzuarbeiten, um die Situation zu verbessern.

"Manchmal stehen wir auch vor einem Rätsel"

Nachfrage bei den Sozialarbeitern: Ist es möglich, den Kontakt zu einem betroffenen Schüler herzustellen? Man könne eine Nummer weitergeben, heißt es, doch dass sich jemand melde, sei unwahrscheinlich. Es meldet sich niemand. Auch Jugendeinrichtungen und die Schülervertretung können keinen Kontakt herstellen. Wer in Eisenach die Schule abbricht, so scheint es, ist nicht mehr auf dem Radar.

Der Einzige, der ausführlich Fragen am Telefon beantwortet, ist Bildungsdezernent Ingo Wachtmeister. "Es ist ein Konglomerat von Ursachen", sagt er. "Manchmal stehen wir auch vor einem Rätsel." Er sehe die Gefahr, dass sich die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss auf dem hohen Niveau einpendeln könne, es rächten sich heute die Fehler der Vergangenheit: "Wir hätten das Problem nicht, wenn wir das schon vor zehn Jahren angegangen hätten."

Es gebe neben schwierigen Umfeldern auch strukturelle Probleme. Regelschulen müssten viele Aufgaben der Inklusion übernehmen, die nicht zu leisten seien. Dazu kämen geflüchtete Kinder, die kaum Deutsch sprechen. Eine Mehrbelastung, die für die Schulen kaum zu stemmen sei. "Wir können gerade so den Regelunterricht abdecken. Wenn ein Lehrer krank wird, haben wir schon ein Problem." Der Osten Deutschlands ist vom Lehrermangel besonders betroffen.

"Unsere Pädagogen versuchen, unter widrigsten Bedingungen ihre Arbeit zu leisten", sagt Wachtmeister. "Unsere gute Arbeit wird manchmal so dargestellt, als sei sie das Problem. Nein, wir arbeiten an Lösungen." Er ist optimistisch, dass die bestehenden Maßnahmen erfolgreich sein werden. "Das wirkt vielleicht nicht von heute auf morgen. So was kann Jahre dauern."

Keinem Lehrer sei es verboten, sich zu äußern, betont Wachtmeister. Doch viele hätten "die Nase voll, negativ dargestellt zu werden". Er werde bei den Schulen noch einmal nachfragen, ob nicht doch jemand über das Thema sprechen möchte. Doch es meldet sich niemand.

© SZ vom 18.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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