Begabten-Förderung:"Wir brauchen mehr Vertrauen"

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Seit 2014 vergibt ein eigenes Förderwerk Stipendien an begabte muslimische Studenten, jetzt wird Avicenna ausgebaut. Für dessen Geschäftsführer Hakan Tosuner Zeichen eines neuen Zeitgeistes in Deutschland.

Interview von Lisa Kreuzmann

SZ: Herr Tosuner, Avicenna fördert seit dem vergangenen Jahr gezielt Muslime. Warum ist das wichtig?

Hakan Tosuner: Um mehr Vertrauen zu schaffen und mehr Verständnis füreinander herzustellen. Denn das ist der einzige Weg, die verschiedenen Lebensentwürfe in Deutschland abzubilden. Natürlich gibt es auch Kritik, warum es jetzt ein muslimisches Begabtenförderwerk geben muss. Aber wir erfahren damit keine Sonderbehandlung. Die Begabtenförderung soll schließlich ein Spiegelbild der Gesellschaft in Deutschland sein, und da gehören Muslime nun mal dazu, genauso wie es ein evangelisches, ein katholisches und ein jüdisches Förderwerk gibt.

Und wie können die muslimischen Stipendiaten zu mehr Verständnis beitragen?

Während des Ramadan zum Beispiel haben sich unsere Stipendiaten mit jüdischen Stipendiaten getroffen, um gemeinsam das Fastenbrechen zu begehen, aber das gleichzeitig auch mit einer Einführung in jüdische Rituale verbunden. Für uns ist Dialog ganz zentral, sowohl der innerislamische Dialog als auch der interreligiöse. Das möchten wir auch den Stipendiaten weitergeben.

Warum hat der Bund nicht früher begonnen, muslimische Talente zu fördern?

In der Vergangenheit wurde bildungspolitisch einiges versäumt. Dennoch sehe ich vor allem die positiven Entwicklungen der letzten Jahre. Als 2010 die Idee für Avicenna entstand, war das ein Zeichen der Aufbruchsstimmung in Deutschland.

Also ist Avicenna ein Symbol für einen neuen Zeitgeist? Kann Deutschland doch Einwanderungsland sein?

Avicenna ist definitiv ein Ausdruck eines neuen Selbstbewusstseins und Selbstverständnisses unter Muslimen in Deutschland: dass wir Muslime uns als Teil Deutschlands sehen und deswegen auch die gleichen Zugänge zu den verschiedenen Ressourcen haben möchten. Das war über Jahrzehnte nicht so. Mit Avicenna gibt es zum ersten Mal eine muslimische Bildungseinrichtung, die vom Staat gefördert wird. Das ist ein ganz wichtiges Signal an die muslimische Community.

Ziel der Förderung muslimischer Studenten sei "keine Sonderbehandlung", sondern Integration, sagt Hakan Tosuner. Eine Vorlesung in der Universität Köln. (Foto: Oliver Berg/dpa)

Geplant waren 50 Plätze - Sie haben dann 65 Bewerber ausgewählt. Wie kam das?

Wir haben im ersten Jahr etwa 600 Bewerbungen erhalten, waren überwältigt von dieser positiven Resonanz und wollten nicht gleich so viele junge Menschen enttäuschen. Denn die Qualität der Bewerbungen war überzeugend: die akademischen Leistungen, wobei wir auch die Lebensumstände berücksichtigen, das soziale Engagement, aber auch die Identifikation mit unserem Förderwerk. Deswegen konnten wir nach Absprache mit dem Bundesbildungsministerium 15 zusätzliche Stipendien vergeben.

Diese Mittlerfunktion scheint Ihnen wichtig zu sein. Der persische Gelehrte Ibn Sina, lateinisch Avicenna, hatte diese Rolle schon im 10. und 11. Jahrhundert inne.

Ja, der Name Avicenna war kein Zufall. Er war ein Universalgelehrter, der schon zu seiner Zeit Brücken geschlagen und sein Wissen aus dem Orient nach Europa getragen hat. Avicennas "Kanon der Medizin" war bis ins 18. Jahrhundert eines der Standardwerke für europäische Medizin er.

In diesem Jahr wollen Sie 80 weitere Stipendien vergeben. Im nächsten Jahr sollen es dann 120 sein und bis 2018 wollen Sie insgesamt 500 Avicenna-Stipendiaten fördern. Da haben Sie einiges vor .

. . In der Tat, wir befinden uns mitten in der spannenden Aufbauphase eines Pionier-Projektes. Das Bildungsministerium hat bis 2018 insgesamt zehn Millionen Euro zugesichert. Die Stiftung Mercator unterstützt uns zudem in der Aufbauphase. Künftig müssen wir zusätzliche Mittel akquirieren, damit wir Seminare, Reisen und Fortbildungen weiter anbieten können.

Hakan Tosuner ist Geschäftsführer des Avicenna-Studienwerks. Der gebürtige Hesse studierte Politik, Rechtswissenschaft sowie Volkswirtschaft und forschte zu Migration und Religion in Deutschland und Europa. (Foto: Younes al-Amayra/oh)

Welche finanzielle Förderung erhalten die Stipendiaten bisher?

Wir fördern momentan 51 Studierende und 14 Doktoranden. Fast 75 Prozent unserer Stipendiaten erhalten den Bafög-Höchstsatz, also etwa 600 Euro, plus 300 Euro Pauschale, das macht dann 900 Euro im Monat. Das wird nach den Bafög-Richtlinien berechnet. Die meisten Stipendiaten stammen aus bildungsbenachteiligten Milieus, das sind nun mal eher die Bevölkerungsgruppen, die sonst früh aus unserem Bildungssystem ausscheiden, leider. Manche konnten es gar nicht glauben, dass der Staat nun speziell Muslime fördern möchte - und mussten ermutigt werden, sich überhaupt zu bewerben.

Wieso ermutigt? Ein Stipendium zu erhalten, ist doch sehr wünschenswert.

Der durchschnittliche muslimische Jugendliche hat oft noch nie etwas von Begabtenförderung gehört. Aber viele haben auch gesagt, dass sie bisher kein anderes Förderwerk gefunden hatten, mit dem sie sich identifizieren konnten, wo ihre muslimische Identität explizit gefördert wird, und wo sie diese auch ausleben können.

Sie sprachen doch vo m neuen Selbstverständnis bei Muslimen in Deutschland.

Dass in den letzten Jahren das Leben für Muslime in Deutschland nicht allzu leicht war, ist ja kein Geheimnis. Und die aktuellen weltpolitischen Entwicklungen machen es uns nicht gerade einfacher. In den Auswahlgesprächen kam natürlich zur Sprache, dass junge Muslime in Deutschland teilweise von Misstrauen und Ausgrenzung betroffen sind. Nach den Gesprächen haben sich viele bedankt und gesagt: Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich in ein Bewerbungsgespräch gegangen, ohne dass ich mir vorher Gedanken machen musste, wie ich auf bestimmte Islambilder einzugehen habe, oder mein Kopftuch rechtfertigen muss. Zum ersten Mal wusste ich, dass ich zu 100 Prozent so sein kann, wie ich bin.

Geht Deutschsein und Muslimsein also doch noch nicht immer leicht zusammen?

Wir sind deutsche Muslime. Ich bin hier geboren und aufgewachsen und verstehe Deutschland als meine Heimat. Aber wir brauchen nur mal den Fernseher anzuschalten, und schon geht es los. Da ist es fast unvermeidbar, dass bestimmte Bilder entstehen.

Sie meinen ein Feindbild Islam, das durch den islamistischen Terror genährt wird?

Genau. Aber unsere Reaktion darauf ist nicht, sich abzuschotten - sondern wir brauchen mehr Austausch, mehr Dialog und mehr Vertrauen. Unsere Stipendiaten sind unsere Hoffnungsträger.

Nun wird das Muslimsein bei Avicenna-Stipendiaten aber auch wieder als Merkmal besonders herausgestellt.

Aber was wäre die Alternative? Das Bedürfnis besteht ganz klar, auch seinen eigenen geschützten Raum zu haben, in dem man nicht erklären muss, wieso, was, wie gemacht wird; warum ich faste oder bete - ohne den Austausch mit unseren nichtmuslimischen Freunden zu verlieren. Das ist ja die riesige Chance, die wir mit Avicenna in Deutschland haben.

© SZ vom 03.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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