Stubenberg:Die Lieder des Lumpensammlers

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Besondere Sammlung: Die Stubenberger Schriften stellte Phillipp Lenglachner zusammen. (Foto: Bayerische Staatsbibliothek)

Stubenberger Schriften gewähren Einblick ins Landleben um 1800

Von Heiner Effern, Stubenberg

Der Fensterstock-Hias war voller Vorfreude, als er die Leiter anlegte. Schließlich hatte er einen Brief mit eindeutiger Einladung zum Fensterln erhalten. Beim Einsteigen landete er mit den schweren Schuhen krachend auf dem Holzboden. Der Hiasl ließ sich davon nicht aufhalten, doch als der Bauer mit dem Ochsenfiesel anrückte, sprang er durchs Fenster hinaus. Dabei bedachte er nicht, dass der enge Rahmen nicht für eine schnelle Flucht gedacht war. Das Holzgestell blieb an seinem Hals hängen, sodass der Bauer rief: "Geh Hiasl ho ho, / geh, laß mir doch dengerscht mein Fensterstock da! / Du konnst'n net braucha / und mir geht er o!"

Der Hias mit seinem Fensterstock-Malheur wurde zu einem Klassiker der Volksmusik. Schließlich fand das Lied sogar den Weg ins Bayerische Fernsehen, wo es etwa Fredl Fesl auf seine unschlagbar nüchterne Weise intonierte. Wann es zum ersten Mal gesungen und wie lange es nur mündlich in Wirtshäusern weitergetragen wurde, weiß man nicht. Eine der ersten Aufzeichnungen des Fensterstock-Hiasls findet sich in den "Stubenberger Schriften". In diesen hatte Phillipp Lenglachner (1769-1823) aus Stubenberg alles an Liedern gesammelt und aufgeschrieben, was ihm am Inn und auf seinen Reisen in die Hände fiel. Seine Bücher wurden 1914 auf dem Dachboden eines Bauernhofs in Stubenberg (Landkreis Rottal-Inn) gefunden. Lange war unbekannt, wer der Verfasser war. Experten wie der frühere Lehrer Willibald Ernst vermuteten, dass ein Musiker oder eben ein früherer Kollege die Lieder von Flugschriften säuberlich abgeschrieben und mit Bildern verziert hat.

Der Zufall löste das Rätsel schließlich im Jahr 2011 auf: Ein Doktorand aus Kiel entdeckte, dass die Handschrift aus Stubenberg bis in Details mit einem anderen Buch Lenglachners übereinstimmte. Zur Überraschung der Volkskundler in Bayern hatte also ein Lumpensammler die bedeutende Sammlung erstellt. Offen bleibt aber, warum ein so einfacher Mann so viel Sinn für Kunst aufbringen und auch noch so fein schreiben konnte. Fest steht nur, dass die nächste Generation der Familie schon weniger gebildet war: Die Schwiegertochter unterschrieb auf einem Dokument mit einem Kreuzl.

Heute sind Lenglachners Bücher für Kenner der Volksmusik ein ähnlich wichtiger Klassiker wie der Fensterstock-Hiasl in einem Hoagast. Sie sind aufgeteilt in geistliche und weltliche Lieder und erlauben einen nachhaltigen Einblick in das kirchliche und soziale Leben auf dem Land Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts. "Es handelt sich dabei um die umfangreichste handschriftliche Sammlung von Liedern, Gebeten und anderen Texten aus dem späten 18. Jahrhundert, die aus Bayern bekannt ist", würdigt die Bayerische Akademie der Wissenschaften die Schriften Lenglachners.

© SZ vom 19.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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