Schüsse im Dienst:"Ich habe getötet"

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Mike Muche war ein Macho, ein bärenstarker Polizist - dann erschoss er im Dienst einen Menschen. Seitdem ist nichts mehr wie es war.

Olaf Przybilla

Als der Notruf am 1. März 2004 gegen 23 Uhr bei der Polizei in Schweinfurt einging, deutete alles auf einen Routineeinsatz hin. Eine Frau fühlt sich bedroht von ihrem Partner, sie bittet um Hilfe. Wenig später traf der Streifenpolizist Mike Muche gemeinsam mit einem Kollegen an der Haustür in einem bürgerlichen Stadtteil in Schweinfurt ein.

Mike Muche gilt heute als kranker Mann. Er hat im Dienst den Bruder eines Freundes erschossen, seitdem ist nichts mehr wie es war. (Foto: Foto: Daniel Peter)

Eine Frau öffnete, sie schien sehr gelassen. In der Erinnerung von Mike Muche, 51, dauerte es von da an höchstens noch zwei Minuten. Danach hatte der Polizist den Bruder jenes Freundes erschossen, mit dem er zwei Monate zuvor gemeinsam Silvester gefeiert hatte. Fünf Schuss feuerte Muche ab, drei davon trafen den Mann in den Bauch.

Zwar kann man Muche auch heute noch bei der Polizei antreffen. Das Areal der Bereitschaftspolizei in Nürnberg betritt er freilich nur, um sich dort mit ehemaligen Kollegen, denen es ähnlich ergangen ist wie ihm, über sein Trauma auszutauschen. Muche ist ein Bär von einem Mann, Polizist aber ist er nicht mehr.

Wie bei Skispringern sei das, hatten ihm die Psychologen kurz nach dem Einsatz erzählt: Hat man einen schweren Sturz hinter sich, dann muss man so schnell wie möglich wieder von der Schanze springen.

Muche fuhr also wieder Streife, kontrollierte Autos, schlichtete bei Ehestreit. Bis er beinahe noch einen Menschen erschossen hätte - diesmal nicht aus Notwehr, sondern aus Angst vor der Wiederkehr eines Traumas.

Zwei Minuten bis zum Tod

Im Grunde, sagt Muche, sind es genau drei sich selbst eingestandene Worte, die sein Leben verändert haben: "Ich habe getötet."

Muche galt als Macho, nicht nur in der Polizeiinspektion. Hätte man ihm vorab die Situation geschildert, mit der er sich in der Wohnung des Mehrfamilienhauses konfrontiert sah - Muche ist sich sicher, er hätte geantwortet: "Wenn mich einer mit seiner Knarre bedroht, dann blas' ich den halt weg."

Seit vier Jahren gilt Muche nun als kranker Mann. Er kann kaum mehr schlafen, erzählt er. Und wenn er doch einschläft, dann wacht er irgendwann auf - und glaubt, in die Mündung eines Revolvers zu blicken.

Was Muche in der Schweinfurter Wohnung erlebt hat, nennen amerikanische Polizeipsychologen "suicide by cop". Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen Muche eingestellt. Sie geht davon aus, dass der Mann, den Muche erschossen hat, in jener Nacht unbedingt sterben wollte, dies allerdings nicht von eigener Hand.

Es scheint so, als habe der Mann einen Streit mit seiner Partnerin nur deswegen angezettelt, damit die Polizei kommen muss - und ihn in einer vermeintlichen Notwehrsituation tötet.

Gustav Regener (Name geändert) war der zweite Mann bei dem Einsatz. Er ist mindestens zwei Köpfe kleiner als Muche. Das aber war nicht der Grund, warum Muche und nicht Regener als erster die Wohnung des Paars betrat. Muche und Regener wechselten sich konsequent ab bei ihren Einsätzen - einer machte die Schreibarbeit, der andere ging voran.

Lesen Sie auf der zweiten Seite, wie Mike Muche versucht, sein traumatisches Erlebnis zu verarbeiten.

Regener betrat die Wohnung erst, als er seinen Kollegen rufen hörte: "Vorsicht, der hat 'ne Knarre." Kurz darauf kam der Mann mit der Knarre aus dem Wohnzimmer, blieb einen halben Meter vor Regener stehen und zückte die Waffe. Es fiel ein Schuss und Regener kippte nach hinten um.

Als sich der Mann aus dem Wohnzimmer danach Muche zuwendete, feuerte Muche los. Die Kollegen teilten ihm später mit, dass der Mann, der nach drei Tagen seinen Verletzungen erlag, nur eine Schreckschusspistole in der Hand gehalten hatte.

Drei Jahre später beschied ihm die zuständige Behörde, es bestehe deswegen kein Anspruch auf ein bestimmtes Ruhestandsgehalt - denn ein Kriterium, die "objektive Lebensgefahr", sei bei dem Einsatz nicht erfüllt gewesen. Erst auf Intervention des damaligen Innenministers Günther Beckstein besann sich das Amt einer anderen Auslegung der Paragraphen.

Der Bruder des Freundes

Muche hat bei dem Einsatz den Bruder eines seiner besten Freunde erschossen. Aus purem Zufall hatte er ihn nie zuvor kennengelernt. Auch mit der Mutter der beiden Brüder pflegte der Polizist ein freundschaftliches Verhältnis.

Aber erst drei Monate nach dem Vorfall hat es Muche übers Herz gebracht, sich mit dem Bruder des Getöteten zu treffen. Drei Stunden, erzählt Muche, habe man geredet und gemeinsam geweint. Zwar will die Familie des Getöteten nicht glauben, dass sich der Mann mit der Schreckschusspistole in dieser Nacht das Leben nehmen wollte.

Aber Vorwürfe habe ihm sein ehemaliger Freund niemals gemacht. Im Frieden sei man auseinander gegangen. Auseinander? "Der Mann, den ich erschossen habe, war sein Bruder", sagt Muche - eine Freundschaft könne man da nicht mehr leben.

Gustav Regener, er ist wie Muche 51 Jahre alt, fährt weiter Streife. Er weiß seit der Nacht, was es heißt, für ein paar Augenblicke unter Todesangst zu leiden. Wenn Muche von Schweinfurt aus zur Selbsthilfegruppe der Polizisten nach Nürnberg fährt, dann begleitet ihn sein ehemaliger Kollege Regener dabei.

"Vor Angst fast in die Hose gemacht"

Muche sagt, das vielleicht Schlimmste an seinem neuen Leben sei es, sich nur mit ganz wenigen Menschen wirklich darüber verständigen zu können, wie sich Todesangst anfühlt. Einen Menschen aber, der auch weiß, wie es sich anfühlt, den Bruder eines Freundes erschossen zu haben - so einen Menschen hat Muche bislang noch nicht getroffen.

Zwei Wochen nach dem Einsatz ist Muche zum ersten Mal wieder Streife gefahren. Alles schien wie immer, erzählen seine Kollegen. Nur die Sprüche, mit denen der Große mit den blauen Augen sie wie immer unterhalten habe, seien noch härter gewesen.

In Wahrheit hat er sich bei jedem Einsatz "vor Angst fast in die Hose gemacht", sagt Muche. Monate hat es gedauert, bis er sich eingestehen konnte, dass er Hilfe braucht in einer Klinik. Dort haben ihm die Ärzte geraten, seine Geschichte aufzuschreiben, als Form der Therapie. Der Verlag Edition Nove hat die Geschichte jetzt unter dem Titel "Ich habe getötet" als Buch veröffentlicht.

© SZ vom 30.01.2009/cop - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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