Rätselhaftes Phänomen:Wenn die Tiere Blut schwitzen

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Die Bauern nennen sie "Christus-Kälber": Eine rätselhafte Krankheit geht um in den Kuhställen, selbst die Veterinäre wissen nicht weiter.

U. Heidenreich

Es begann mit ein paar Blutstropfen an der Schulter. Unter dem flauschigen braun-weißen Fell des Kalbes perlte rotes Blut hervor. Hildegard Kirmeier rief ihren Mann: "Schau mal, Josef, das Tier hat sich weh getan." Wenig später trat Blut aus den Augenhöhlen hervor. Dann färbten sich ganze Hautpartien rot. "Es sah aus, als ob das Kalb Blut schwitzen würde", sagt Josef Kirmeier. Schließlich rann Blut aus dem Darm, der Kot war tiefrot.

Seit knapp zwei Jahren stehen deutsche Tiermediziner ratlos dem Phänomen der blutschwitzenden Kälber gegenüber. (Foto: Foto: AP)

Ein paar Stunden später konnte das Jungtier nicht mehr aufstehen, es dämmerte auf dem Stroh vor sich hin, schlug schwach mit seinen Klauen gegen die Stallwand. In der Nacht verendete es. "Am Morgen war es noch fit und frisch gewesen", sagt der Milchbauer.

Das war das erste "blutschwitzende" Kalb auf dem Hof der Familie Kirmeier. 42 Kühe, 700 bis 800 Liter Milch am Tag, 42 Hektar Land. Ein stattlicher Vierseithof mit Solarzellen auf dem Dach in der Gemeinde Wurmsham, gelegen zwischen Vils und Rott, eingebettet in weiche grüne Hügel, auf denen gerade die Wintersaat aufgeht.

Ein paar Wochen später blutete das zweite Kalb. Das war im Sommer vergangenen Jahres. Am zweiten Weihnachtsfeiertag verendete das dritte Kalb qualvoll. Es folgten zwei weitere. Inzwischen haben Josef Kirmeier, 55, und seine Frau ein mulmiges Gefühl, wenn sie in ihren Stall gehen: "Du schaust als Erstes bei den Kälbern nach, ob sie irgendwo bluten, an den Ohren, an den Augen, am Darm, sonstwo." Fünf Tiere haben die Landwirte aus Niederbayern bislang an die rätselhafte Krankheit verloren.

Ein paar Hügel weiter, auf dem Nachbargehöft, sind bislang acht Kälber verendet. Noch ein paar Hügel hoch Richtung Rottal, in einem Weiler mit hübschem Zwiebelturm, zählt ein Milchbauer das sechste tote blutschwitzende Kalb in seinem Stall. Und so geht es Hügel für Hügel weiter.

Seit knapp zwei Jahren stehen deutsche Tiermediziner ratlos dem Phänomen der blutschwitzenden Kälber gegenüber. 150 Fälle bundesweit sind dokumentiert, allein 110 Kälber sind in bayerischen Ställen verblutet. Die Dunkelziffer dürfte sehr viel höher sein, weil keine Meldepflicht besteht. Die einzig sichere Erkenntnis bislang: Bei allen Tieren war das Rückenmark schwer geschädigt, zu einer geleeartigen Masse degeneriert.

Die Bauern, eh schon gebeutelt von niedrigen Milchpreisen und EU-Regularien, sehen sich mit ihren Sorgen mal wieder alleine gelassen. Das richtige Klima für Angst, Aberglaube und Irrwitz. In Internetforen wie dem "Bäuerinnentreff" blühen Spekulationen, Vermutungen wabern landauf, landab.

Liegt es an der Verfütterung von Gensoja aus Argentinien? Sind es die Strahlen von Handymasten, die nun schon das Rückenmark der kleinen Kälber durchlöchern? Ist es eine Folge der umstrittenen Pflichtimpfung gegen die Blauzungenkrankheit?

Oder sind die blutschwitzenden Kälber eine Heimsuchung, eine Strafe Gottes gar? Inzwischen nennen manche Bauern ihre gepeinigten Tiere schon "Christus-Kälber" - weil sie ja bluten. Bei der Bauernwallfahrt zur Schwarzen Madonna von Altötting vor wenigen Wochen bat man die Heilige Jungfrau um Gnade. Die Veranstalter schrieben, dass "offenbar von keiner weltlichen Stelle irgendeine Hilfe" in dieser Angelegenheit zu erwarten sei.

"In der heutigen Zeit fliegt man zum Mond, aber man kann nicht feststellen, woher diese beängstigende Krankheit kommt", wundert sich Konrad Schützeneder, ein streitbarer Biobauer aus Simbach am Inn, der sich der staatlich verordneten Blauzungenimpfung widersetzen und dafür Zwangsgeld, Privatkontopfändung bis hin zur Beugehaft riskieren will. "Das mache ich zum Schutz meiner Tiere. Der Impfstoff ist unerforscht", sagt er.

Die Kälber sterben innerhalb von zwei Tagen

"Man gibt in die Körper irgendetwas hinein, was da nicht hingehört", pflichtet ihm die Landwirtin Sabine Holzmann von der Einöde Gutthät im Landkreis Landshut bei. Bis vor drei Jahren verfütterte sie auf ihrem Hof noch Gensoja. Seit sie auf Biofutter umgestellt hat, gehe es ihren Kühen insgesamt besser, sie seien fitter und fruchtbarer. "Das Blutschwitzen kann nur Ausdruck einer fehlgeleiteten Ernährung sein."

Ausschließlich Kälber, die zwei bis drei Wochen alt sind, werden zu Blutschwitzern. Sie sterben innerhalb von zwei Tagen, manchmal auch nur in wenigen Stunden. "Wenn du siehst, wie sie elendig draufgehen, gehst weg. Du bist machtlos, das hält man nicht aus", beschreibt der Landwirt Josef Kirmeier aus Wurmsham seine Gefühle. Er steht mit gesenktem Haupt hinter dem Stall vor weißen Kunststoffiglus, in denen die Kälber zum Schutz vor Regen die ersten Wochen und Monate verbringen.

Der Tierarzt aus dem nahen Neumarkt-St. Veit hatte der Familie schon nach dem Tod des zweiten Tieres beschieden, dass sie ihn künftig nicht zu rufen bräuchten. Er könne sowieso nichts tun.

Wolfgang Klee, Leiter der Klinik für Wiederkäuer an der Universität München, hatte erst vor gut einem Monat mit einem dieser mysteriösen Blutschwitzerfälle zu tun: "Das Kalb kam in Agonie an und wurde eingeschläfert." "Hämorrhagische Diathese" oder besser "Panmyelophthise" nennt Klee die Krankheit, weil damit die Schädigung aller Zelllinien im Knochenmark bezeichnet sei.

In einer Expertenrunde im Bundeslandwirtschaftsministerium in Berlin hat er in diesen Tagen mit Kollegen durchgesetzt, dass die finanziellen Forschungsmittel erhöht werden: Der politische Druck wachse.

Nun will man in den Labors versuchen, Antworten in den Genen der verendeten Kälber zu finden. Außerdem gehen die Forscher der Frage nach, ob im Kolostrum, der ersten Milch, die Kälber von den Muttertieren bekommen, Antikörper zu finden sind, die das Knochenmark womöglich schädigen. "Was die diversen Vermutungen über die Ursachen angeht, so haben wir bisher keinerlei Hinweise, dass eine von ihnen zutreffend ist", umschreibt Klee die Ratlosigkeit seines Berufsstandes.

Viele Tiere verbluten innerlich

Der Tierarzt Andreas Hammerschmidt aus Pfarrkirchen im Rottal hat etwa 40 blutschwitzende Kälber in den vergangenen eineinhalb Jahren betreut, Tendenz steigend. Viele Tiere verbluteten auch innerlich, sagt Hammerschmidt, im Darm war das Blut zusammengestockt - Symptome, die an eine Infektion mit dem tödlichen Ebolavirus beim Menschen erinnern.

Manchmal half eine Bluttransfusion. Aber nur kurzzeitig. "Weil es elf Blutgruppen bei Rindern gibt, zapfen wir immer das Muttertier an, um Unverträglichkeiten auszuschließen", sagt Veterinär Hammerschmidt. Bis zu zweieinhalb Liter flossen in das kranke Kalb. Es ging ihm ein, zwei Tage besser, die Zahl der weißen Blutplättchen hatte sich nachweislich erhöht. Dann brach das Tier zusammen, trank nicht mehr, legte sich matt auf den Boden und starb. Wenn er das nächste Mal in einen Stall mit blutverschmiertem Stroh gerufen wird, will es Hammerschmidt mit der Homöopathie versuchen: "Ich weiß einfach nicht mehr weiter."

Die letzte Hoffnung für viele Bauern ist in diesen Tagen die Heilpraktikerin Claudia Miklos aus Kößnach bei Straubing. Mit ihrer mobilen Tierheilpraxis ist sie von morgens bis abends unterwegs, wendet von Akupunktur, Moxabustion bis Edelsteintherapie so ziemlich alles an, was gestandenen Schultiermedizinern ein Graus ist. Die dunkelhaarige Pferdenärrin sagt: "Viele Bauern sind so verzweifelt. Schließlich sind die Kälber nicht nur ihre Erwerbsquelle, sie hängen ja auch an ihnen."

Auf der Suche nach einem Heilmittel

Sonja Miklos hat auf ihrer Webseite den Fall von einem Kalb namens Waldi dokumentiert, das Blutblasen an der Nase und am Ellenbogenhöcker hatte, als sie in den Stall gerufen wurde. Nach der ersten Gabe von Crotalus Horridus, dem verdünnten Gift der Waldklapperschlange, sei es Waldi schon besser gegangen. Nun muht er fröhlich in der Pferdepension Wastlhof im niederbayerischen Falkenfels und ist für Miklos der lebende Beweis, dass es auch anders gehen kann. Die erste Heilung eines blutschwitzenden Kalbes?

Klee, Leiter der Klinik für Wiederkäuer, steht dem Fall Waldi skeptisch gegenüber. Die Blutuntersuchungen des Tiers in seinem Labor hätten nicht den Definitionskriterien für eine hämorrhagische Diathese entsprochen. Die Suche nach Heilung geht also weiter.

Josef Kirmeier, der Milchbauer aus Wurmsham, sieht hinüber zu seinem großen Stall, der eine ganze Längsseite des Vierseithofs einnimmt. 40 bis 60 Kälber pro Jahr zieht er mit seiner Frau Hildegard groß. Er zuckt die Schultern: "Für die Milch kriegst nix mehr, und die Kälber werden hi. Für was arbeitst da noch?" Trotzdem hofft er, dass sein Jüngster, gerade zwölf Jahre alt, den hundert Jahre alten Hof übernehmen wird. Denn - und dann lächelt Kirmeier doch: "Die Hoffnung stirbt nie."

© SZ vom 09.04.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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