Prozess um Eissporthalle Bad Reichenhall:Tragende Teile, die fehlen

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15 Menschen starben in Bad Reichenhall vor zwei Jahren beim Einsturz der Eissporthalle, die Hinterbliebenen blicken dem Prozess skeptisch entgegen.

Heiner Effern

Sie hängt immer noch da. Nach mehr als zwei Jahren. So, als hätte Anne-Kathrin sie gerade über die Lehne geworfen. Inge Bauer hat es nicht geschafft, die Kapuzenjacke ihrer einzigen Tochter vom Stuhl am Esszimmertisch zu nehmen. Zu groß ist der Schmerz, zu gegenwärtig ihr Kind. Sie haben noch gescherzt an diesem letzten Vormittag.

Die Gedenkstätte für die Opfer des Eishalleneinsturzes in Bad Reichenhall. (Foto: Foto: ddp)

Kurz vor der Abfahrt mault die 13-Jährige noch ein bisschen, weil sie die Skihose anziehen muss. Dann geht sie mit einer Freundin zum Eislaufen. "Sie wollte nur zwei Stunden Spaß", sagt Inge Bauer. Mitgenommen sitzt sie da, lehnt sich an die Jacke ihrer Tochter. Die nie mehr zurückgekommen ist. Wie elf andere Kinder und drei Frauen wurde Anne-Kathrin am 2.Januar 2006 von den Trümmern der einstürzenden Eishalle in Bad Reichenhall erschlagen.

Die erschütternden Bilder von diesem Unglück beherrschten die Nachrichten im neuen Jahr 2006. Niemand konnte fassen, dass in der Heimat des Baugesetzbuchs ein öffentliches Gebäude einfach so zusammenfällt und 15 Menschen tötet, weil angeblich zu viel Schnee auf dem Dach lag. Von einem Hügel auf einem nahen Parkplatz verfolgten Journalisten aus dem In- und Ausland damals, ob die Retter auf dem abgesperrten Gelände Lebende bergen oder Tote. Am Montag beginnt nun vor dem Landgericht Traunstein der Strafprozess gegen vier Männer, die für das Unglück verantwortlich sein sollen.

"Eine Verhandlung kann die Wunde im Herz nicht schließen. Aber sie kann vielleicht einen Schlusspunkt setzen unter das Grübeln nach den Gründen und der Verantwortung, das einem fürchterlich Energie raubt", sagt Inge Bauer. "Mein Kind muss irgendwo Gerechtigkeit erfahren." Fast zwei Jahre haben die Traunsteiner Staatsanwälte ermittelt. Nun klagen sie den Statiker Walter G., 67, den früheren Chef des Hochbauamts von Bad Reichenhall, Horst P., 71, den Architekten Rolf R., 63, und den Bauingenieur Rüdiger S., 54, an wegen fahrlässiger Tötung in 15 Fällen und fahrlässiger Körperverletzung in sechs Fällen.

Zhanna Martens, die ihre 15-jährige Tochter Violetta in der Eishalle verlor, wird versuchen, an jedem Prozesstag teilzunehmen. "Das macht es mir zwar nicht leichter, mit ihrem Tod zurechtzukommen, aber ich will alles wissen, was dazu geführt hat", sagt sie. Damit auch wirklich alle Ursachen des Unglücks an die Öffentlichkeit kommen, nimmt sie es auf sich, Journalisten ihr Leid zu schildern, immer wieder.

Auch andere Angehörige wollen so auf die bisher ungeklärte Schuldfrage aufmerksam machen. An der braunen Bretterwand mit den weißen Kreuzen, die an der Straße vor dem Unglücksareal als provisorische Gedenkstätte dient, laufen die Hinterbliebenen in diesen Tagen vor Kameras auf und ab. Manche gehen auf die dahinter liegende Wiese, auf der die Eis- und Schwimmhalle stand.

Wo das eingeknickte Dach und die Schneemassen insgesamt 49 Menschen unter sich begruben, ist in diesem milden Januar nur ein großes Loch geblieben, in dem sich Pfützen bilden. Ein Großteil der Betroffenen hat das Gefühl, dass sich in ihrer Umgebung kaum noch einer wirklich für das Unglück und dessen Ursachen interessiert. "Es wäre halt besser, wir wären gar nicht da. Das Ganze ist ja auch störend für einen Kurort", sagt Inge Bauer.

Auf kurzem Verwaltungsweg

Viele Bad Reichenhaller wollen tatsächlich von dem Gebäude nichts mehr hören, das einst als Prestige-Objekt errichtet worden war. Die Decke der etwa 48Meter breiten und 75 Meter langen Halle wurde Anfang der siebziger Jahre als eine der ersten in Deutschland in einer spektakulären Holzbauweise errichtet. Die prosperierende Kurstadt war bereit, insgesamt mehr als zehn Millionen Mark auszugeben. 35Jahre später versuchten nun die Ermittler, die Gründe für den Einsturz zu finden. Das stellte sich als schwierig heraus: Von den Planern und Bauarbeitern sind einige gestorben oder ohne Erinnerung, Firmen wurden aufgelöst, Unterlagen vernichtet.

Zeugen schilderten aber, dass seinerzeit in der Stadt Bad Reichenhall der ganz kurze Verwaltungsweg eingeschlagen wurde: Die Bauplanung und die Bauaufsicht, die man von Amts wegen zu erledigen hatte, erledigte Horst P., Leiter des städtischen Hochbauamts, in Personalunion. Er ließ ohne eine von einem Prüfingenieur genehmigte Statik die Bagger anrollen. Auch der zuständige Architekt, Rolf R., schritt deswegen nicht ein, er wird ebenfalls auf der Anklagebank sitzen.

Das Dach errichtete eine Augsburger Spezialfirma. Deren Angestellter Walter G. berechnete die Tragfähigkeit falsch. Er hätte zudem als Bauleiter für das Dach erkennen müssen, dass die Höhe der Hauptträger die in der angewandten Bauweise maximal erlaubten 1,20 Meter mit 2,87 Meter um mehr als das Doppelte überschritt. Auch ihm hätte auffallen müssen, dass seine Statik keinen Prüfstempel hatte. Die Eis- und Schwimmhalle wurde ohne größere Verzögerungen gebaut und im Oktober 1973 eröffnet.

Trotz der mutmaßlichen Schlampereien beim Bau des Gebäudes wäre das Unglück wohl noch zu verhindern gewesen. Denn die Stadt beauftragte im Jahr 2003 wegen immer wieder auftretender Wassereinbrüche den Bauingenieur Rüdiger S., die Halle zu untersuchen. Dieser begutachtete jedoch nur einen Hauptträger des Dachs aus der Nähe. Den Rest kontrollierte er vom Boden aus, durch das 300-Millimeter-Objektiv seiner Kamera. Ein Grund für die oberflächliche Kontrolle könnte das vereinbarte Honorar gewesen sein. Der Bauingenieur erhielt für die Begutachtung der Eis- und Schwimmhalle nur 3000 Euro. Das Fazit seiner Expertise: "Die Tragkonstruktionen befinden sich in einem allgemein als gut zu bezeichnenden Zustand."

Am 2.Januar 2006 gegen 16 Uhr, nur wenige Minuten vor dem Ende des Publikumslaufs, stürzte die Eishalle nach tagelangen Schneefällen ein. Die feuchte Last auf dem Dach war allerdings nicht die Ursache, sondern nur der Auslöser, der die ohne Genehmigung errichtete, falsch berechnete und mangelhaft zusammengesetzte Dachkonstruktion wie Streichhölzer nach innen knicken ließ.

Zu diesem Schluss kamen die von der Staatsanwaltschaft beauftragten Gutachter des TÜV Süd und der TU München. Insgesamt ermittelte die Justiz deshalb gegen neun Beschuldigte, gegen fünf erhob sie Anklage. Zimmerermeister Johann G. erklärte die Ärztin des Landgerichts für nicht prozessfähig. Er soll die aus Einzelteilen bestehenden Dachbalken mangelhaft verklebt und einen Leim verwendet haben, der für die feuchte Luft und die unterschiedlichen Temperaturen in einer Eishalle nicht geeignet war. Inzwischen ist Johann G. an einer schweren Krankheit gestorben.

Noch bevor die Verhandlung im Saal 33 des Traunsteiner Gerichtsgebäudes eröffnet ist, bringen sich die Parteien in Stellung. Thomas Kämmer, der als Rechtsbeistand vier Opfer-Familien betreut, stellt sich hinter die Justiz. Er sagt: "Die Richtigen sitzen auf der Anklagebank." Für ein strafrechtliches Vorgehen gegen weitere Beschäftigte der Stadt lägen die rechtlichen Hürden zu hoch. Daniel Amelung, der Zhanna Martens als Nebenklägeranwalt vertritt, hätte sich dagegen weitere Angeklagte gewünscht, insbesondere Mitarbeiter der Stadt aus der jüngeren Vergangenheit. "Damit nicht der Eindruck entsteht, dass sich die Staatsanwaltschaft schützend vor die Stadtverantwortlichen stellt."

Verteidiger Thomas Pfister, der den Architekten Rolf R. vertritt, geht noch weiter. "Das wird ein Geisterverfahren", sagt er. "Keiner von denen, die in den vergangenen 35 Jahren für die Sicherheit der Eisläufer - meistens Kinder - verantwortlich waren, sitzt auf der Anklagebank. Mein Mandant wird nicht den Kopf hinhalten für das Versagen der Stadt Bad Reichenhall."

Dass die Verantwortlichen der Stadt "mit einem Alibi-Gutachten für 3000 Euro" ihr Haupt aus der Schlinge ziehen könnten, ist für Pfister eine "Verhöhnung der Opfer". Er will ebenso wie die Verteidiger von Rüdiger S. einen Freispruch erreichen. "Wir sind überzeugt, dass die Schuld bei den Verantwortlichen der Stadt Bad Reichenhall zu suchen ist. Diese haben die Halle baurechtswidrig errichten lassen und sind mehr als 30 Jahre lang trotz vielfacher Klagen der Bevölkerung über den mangelhaften Zustand untätig geblieben", schreiben dessen Anwälte in einer Erklärung. Die zwei anderen Angeklagten wollten sich nicht äußern.

Tatsächlich kritisieren auch die Gerichtsgutachter die Stadt, weil sie die Eishalle verlottern ließ. Doch wegen der Hallen-Expertise aus dem Jahr 2003 sind die Mitarbeiter der Stadt nach Ansicht der Staatsanwälte aus dem Schneider. Das Verfahren gegen die im Januar 2006 amtierende Stadtbaudirektorin wurde eingestellt, gegen den damaligen Oberbürgermeister Wolfgang Heitmeier und den zuständigen Mitarbeiter im Bauamt wurde nie eines eröffnet. Dabei war in der Stadt und darüber hinaus bekannt, dass die Halle immer wieder mit Wasserschäden zu kämpfen hatte.

Franz Zauner zum Beispiel besuchte 2005 einen Flohmarkt in der Eishalle. "Das erste Hindernis war eine etwa zehn Quadratmeter große Pfütze, die zwei Zentimeter tief war. Überall standen Wannen, Eimer und Bottiche, um das tropfende Wasser aufzufangen. Spätestens da hätte die Stadt doch reagieren müssen." Das geschah nicht, Zauners Frau Irene wurde am 2. Januar 2006 vom Dach der Halle getötet. Schuldsprüche für die Angeklagten würden nach Meinung des Witwers für andere Hallenbesitzer Maßstäbe setzen. "Die müssen den Mut haben, auch mal ein Gebäude zu schließen." Auch Inge Bauer erhofft sich Urteile, damit es künftig niemandem so ergeht wie ihr. "Von meinem Leben gibt es nur noch zerstückelte Überreste", sagt sie. "Die lassen sich nicht mehr zusammensetzen."

© SZ vom 25.01.2008/jkr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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