Prozess um Amoklauf in der Oberpfalz:Die Kugeln eines Missachteten

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Ein glückloses Leben, eine Waffe, ein Verhängnis. Wie Johann Meier erklärt, dass er eines Sonntags im Wirtshaus ein Blutbad mit einem Toten und sechs Verletzten angerichtet hat.

Hans Holzhaider

Cho Seung-Hui hat in Blacksburg, Virginia, 32 Menschen erschossen. Johann Meier hat in Saltendorf im Landkreis Schwandorf in der Oberpfalz nur einen Menschen erschossen, aber was heißt das schon? Es hätten ebenso gut zehn oder auch 15 sein können. In der Pistole CZ 75 Brünner, die Johann Meier benutzte, steckte ein mit 15 Schuss geladenes Magazin. Wie viele Schüsse Johann Meier abgegeben hat, steht nicht endgültig fest, zwölf waren es mindestens.

Johann Meier sitzt vor dem Holzmodell der Gaststätte (Foto: Foto: dpa)

Die CZ 75 ist eine tschechische Polizeiwaffe, Kaliber neun Millimeter, damit kann man einen Ochsen erschießen. Der Schuss, der den Rentner Andreas Winkelmann, 67, tödlich ins Herz traf, hatte zuvor eine massive Holztür durchschlagen. Seiner Ehefrau Hildegard Winkelmann wurde durch beide Brüste geschossen.

Amokläufer vor Gericht

Johann Schlosser, der 73-jährige Wirt, bekam eine Kugel in den Bauch, genauso wie seine Frau Maria und seine Tochter Christine. Andreas Winkelmann II (in Saltendorf gibt es viele Winkelmanns und Schlossers, und die meisten heißen Andreas oder Johann) kam glimpflich davon. Eine Kugel durchschlug glatt seinen rechten Unterarm. Manfred Giesl, 38, traf es umso schwerer: Meiers erster Schuss ging in den Oberschenkel, der zweite in den Rücken, er zerfetzte eine Niere und zerriss einen Nervenstrang am fünften Lendenwirbel - Manfred Giesl wird den Rest seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt sein.

Zwei, drei andere Gäste kamen mit bloßen Kratzern von Streifschüssen oder Querschlägern davon. Georg Schwarz, 55, kann sich besonders glücklich schätzen. Die Kugel, die nach Lage der Dinge wohl ihm persönlich galt, prallte dicht neben ihm von der Wand ab und plumpste, ohne Schaden anzurichten, in einen Aschenbecher.

Cho Seung-Hui ist tot, aber Johann Meier lebt. Es kommt nicht oft vor, dass ein sogenannter Amokläufer vor Gericht steht. Fast immer richtet ein solcher Täter zuletzt die Waffe auf sich selbst. Johann Meier aber stieg, nachdem er die Gaststätte Schlosser verlassen und von draußen noch drei Schüsse durch ein Küchenfenster abgefeuert hatte, in seinen Opel Astra und fuhr in ein wenige Kilometer entferntes Waldgebiet, wo er die Nacht verbrachte.

Blicke ohne Scheu

Am Nachmittag des folgenden Tages rief er die Polizei an. Er sei unbewaffnet, versicherte er. Er habe eine weiße Fahne. Er werde keinen Widerstand leisten. Er erweckte den Eindruck, als sei ihm sehr daran gelegen, nicht aus Versehen von der Polizei erschossen zu werden

Deshalb steht Johann Meier jetzt vor dem Landgericht in Amberg, angeklagt des Mordes und des versuchten Mordes in sechs Fällen. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite des Gerichtssaales, sitzen die Nebenkläger, die Menschen, die er an jenem Abend im Gasthaus Schlosser angeschossen hat, unter ihnen auch Manfred Giesl im Rollstuhl. Der Zuschauerraum ist bis auf den letzten Platz gefüllt mit Bürgern von Saltendorf.

Johann Meier lässt den Blick ohne jede Scheu durch den Saal schweifen, während ihm die Justizbeamten die Handschellen lösen. Er unternimmt nicht den geringsten Versuch, sein Gesicht vor den Fotografen zu verbergen. Mit einem Karohemd und einer Leinenweste über seinem stattlichen Bauch wirkt er wie die Biederkeit in Person. Er spricht ohne Hemmung, in einem gut verständlichen Hochdeutsch, das ist durchaus nicht die Regel hier.

Seine Sprache wirkt manchmal etwas gestelzt. Wenn er mitteilen will, dass ihm das Atmen schwerfällt, dann sagt er: "Ich bin luftmäßig stark gehandicapt." Wenn er ausdrücken will, dass ihn etwas gefühlsmäßig aufwühlt, dann sagt er: "Daran habe ich eine extrem emotionale Erinnerung."

Johann Meier stammt aus Damelsdorf, das ist ein Weiler, der nur aus einer Handvoll Bauernhöfen besteht, zwei Kilometer von Saltendorf entfernt. Er ist 1956 geboren, 1958 und 1959 kamen zwei Schwestern zur Welt, 1963 schließlich der Bruder Josef. Das, sagt Johann Meier, sei "sehr einschneidend" für ihn gewesen. Das gestörte Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder ist das Leitmotiv seines glücklosen Lebens.

Als er aus der Volksschule entlassen wurde, musste Johann Meier auf dem elterlichen Bauernhof arbeiten. Er ist beileibe nicht dumm, der Psychologe hat einen Intelligenzquotienten von 103 ermittelt, das ist guter Durchschnitt. Die Landwirtschaft, sagt er, habe ihm nie Freude gemacht. Automechaniker wäre er gern geworden. Aber die Eltern hätten einfach über ihn bestimmt, "ich war zwangsweise einverstanden".

Das Leben auf dem Hof der Familie Meier war von extremer Sparsamkeit geprägt. Eine ordentliche Mahlzeit, sagt Johann Meier, gab es nur sonntags, unter der Woche nur Suppe, immer nur Suppe. Die Meiers hatten 30 Hektar Ackerland und 15 Hektar Wald, im Stall standen acht Milchkühe und vielleicht ein Dutzend Kälber. Morgens und abends ausmisten, die Milch zur Sammelstelle fahren, das war Johanns Arbeit. Wie viel Milch die Kühe denn gegeben hätten, fragt der Richter. Das weiß der Angeklagte nicht, da habe er keinen Einblick gehabt, er weiß nur, dass es jeden Tag zwei Kannen waren, und eine Kanne fasst 30 Liter. Rechnen, sagt er, sei nicht seine Stärke.

Aber er schaffte immerhin den Abschluss an der Landwirtschaftsschule in Nabburg und später, nach einer Umschulung, sogar die Gesellenprüfung als Maschinenbauer, man weiß nicht recht, wie das zusammenpasst. Dazwischen lag der Wehrdienst, 15 Monate, in denen Johann Meier an die 30 Kilo Gewicht zulegte, weil er bei den Panzerjägern im Pfreimd Küchendienst machte. Danach gab es wieder karge Kost auf dem elterlichen Hof und keinen Pfennig Taschengeld.

Der Angeklagte Johann Meier mit einem Polizisten (Foto: Foto: dpa)

Das ging so bis zum Jahr 1986, da war Johann Meier 30, und noch nie war die Rede davon gewesen, dass er den Hof übernehmen sollte. "Haben S' mal ans Heiraten gedacht?", will der Richter wissen. "Nein", sagt Johann Meier, "da war keine." "Was haben S' denn geplant für die Zukunft?". "Ich hab' in meinem ganzen Leben noch nix geplant", antwortet der Angeklagte, "ich hab das alles auf mich zukommen lassen."

Spott und Sprüche

Nun kam aber auf ihn zu, dass der Bruder Josef, der sieben Jahre jüngere, den Eltern ein Ultimatum stellte: Seine Freundin sei schwanger, entweder bekomme er jetzt sofort den Hof, oder er werde weggehen. Der Bruder, der schon immer alles durfte, der noch nie einen Finger krumm gemacht habe auf dem Hof. So erzählt es Johann Meier. Und die Eltern hätten sofort nachgegeben. Hätten den Hof an den Jüngeren übergeben, und für ihn, den Hansl, blieb nur ein Wohnrecht in einem Zimmer, befristet auf zehn Jahre. "Das", sagt Johann Meier, "hat mich sehr bedrängt."

Die zehn Jahre vergingen, ohne dass sich die Situation entscheidend änderte. Johann Meier schlug sich mit Gelegenheitsarbeiten durch, hielt es höchstens einmal drei Monate an einem Arbeitsplatz aus, lebte dann wieder vom Arbeitsamt. Warum? "Das ist schwer zu sagen", antwortet er, und sagt nichts weiter zu diesem Thema. Es ist nicht so, das Johann Meier ein Außenseiter gewesen wäre. Er war in der Freiwilligen Feuerwehr, und im Fischereiverein war er sogar zwei Jahre lang Schriftführer.

Aber wenn einer nicht arbeitet, dann gilt er nichts im Dorf. Dann reden die Leute. "Mein Mann", sagt eine Zeugin, "hat nichts von ihm gehalten. Der fuhr immer mit dem Radl rum und hat den Leuten beim Arbeiten zugeschaut." Im Wirtshaus, sagt Meier, habe er sich so Sprüche anhören müssen, dass es Zeit werde, dass der Adolf wiederkommt, der mit den Arbeitslosen aufräumt. Einer habe mal zu ihm gesagt, das Bier, das er gerade trinke, das zahle die Allgemeinheit.

Das war angeblich der Manfred Giesl, der später die Kugel in den Rücken bekam. Und einmal wäre da eine Jagdpacht zu vergeben gewesen, und er hätte sich dafür interessiert. Johann Meier hat einen Jagdschein, deshalb durfte er auch ganz legal Handfeuerwaffen besitzen. Aber der Schwarz Georg sagte, der Meier, der faule Hund, der könne das eh nicht bezahlen. Georg Schwarz war es, der dann an jenem Abend die Kugel, die ihn knapp verfehlt hatte, aus dem Aschenbecher fischte.

Die dummen Sprüche und die Missachtung im Dorf, sagt Johann Meier, das habe er hingenommen, daran habe er sich gewöhnt. Aber das mit seinem Bruder war schlimmer. 1996, als das Wohnrecht auslief, wollte der Bruder ihn aus dem Haus klagen, aber die Eltern setzten durch, dass er mit in ihrer Austragswohnung leben durfte. Aber das Verhältnis war zerrüttet. Einmal hat ihn die Schwägerin wegen Beleidigung verklagt, sie hat extra ein Tonband mitlaufen lassen.

1998 starb die Mutter. 2003 wurde der Vater krank und pflegebedürftig, und der Bruder und die Schwägerin, klagt Johann Meier, hätten sich vollkommen feindselig verhalten. Er habe den Vater gepflegt, wie ein kleines Kind. Das war, der Psychiater Norbert Nedopil deutet es in seinem Gutachten an, vielleicht die beste Zeit in Johann Meiers Leben - er hatte das Gefühl, dass er gebraucht wurde, und er erntete auch, wohl zum ersten Mal, ein gewisses Maß an Anerkennung. "Der Vater hat zwar nichts gesagt, aber ich hab' gemerkt, dass er sich gefreut hat, dass ich da war."

"Was fällt denn dir ein"

Umso tiefer war die Depression, als der Vater schließlich im August 2005 starb. Alles sei ihm plötzlich sinnlos erschienen, und dass der Bruder ihm jetzt eine Frist bis zum 2. November setzte, um das Haus zu verlassen, "das hat mich auf's Tiefste gekränkt", sagt Johann Meier. Es wäre kein finanzielles Problem gewesen - der Vater hatte ihn als Erben eingesetzt, das war nicht viel, aber es hätte gereicht.

Nein, Johann Meier wollte sein Elternhaus nicht verlassen, um keinen Preis der Welt. Er sei eben "extrem heimatverbunden", sagt er. Aber die Wahrheit ist, dass er einfach nicht in der Lage war, einen Entschluss zu fassen. Er hatte es nie gelernt, sich für oder gegen etwas zu entscheiden.

Er hatte immer alles treiben lassen, hatte sich immer eingeredet, irgendwie werde sich schon alles von alleine regeln. Und nun rückte der Termin, an dem er das Haus verlassen sollte, immer näher, unausweichlich, endgültig, und es musste etwas geschehen. Und alles, was er sein Leben lang nicht unternommen hatte, kulminierte nun in dieser einen, verhängnisvollen Unternehmung.

Es war Sonntagabend, der 30. Oktober 2005, zwei Tage vor Ablauf des Ultimatums. Im Saal der Gastwirtschaft Schlosser fand eine Pfarrversammmlung statt, und ein paar Stammgäste saßen in der Wirtsstube. Gegen drei viertel zehn kam Johann Meier durch die Tür, mit einer silbergrauen Baseballkappe auf dem Kopf und der Pistole in der Hand.

Der erste und der zweite Schuss trafen Manfred Giesl, der sich gerade an der Garderobe seine Jacke anziehen wollte. Den alten Herrn Winkelmann, der das Lokal gerade verließ, erschoss er durch die geschlossene Tür, Frau Winkelmann, die um Hilfe rief, traf er in die Brust, sie stürzte zu Boden. Dann drehte sich Johann Meier zum Stammtisch und schoss zweimal. Johann Schlosser, der Wirt, schrie: "Ja, Hans, was fällt denn dir ein", und schon hatte er eine Kugel im Bauch.

Dann schoss Meier durch die offene Saaltür. Georg Schwarz, den er nur knapp verfehlte, rief: "Der schießt scharf", und alle verschwanden unter den Tischen. Meier wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal um, sah die Wirtstochter in der Saaltür stehen, und schoss auch noch auf sie.

Vor Gericht sagte Johann Meier, er habe sich, in seiner tiefen Verzweiflung und Ausweglosigkeit, zum Selbstmord entschlossen, zu einem demonstrativen Selbstmord vor der versammelten Pfarrgemeinde, damit auch alle sähen, wie übel man ihm mitgespielt habe. Irgendwie sei das aus dem Ruder gelaufen, er wisse auch nicht wie. Niemals habe er geplant, jemanden zu töten oder zu verletzen. Aber es gibt nicht viele in Saltendorf, die das glauben. Am heutigen Mittwoch will das Gericht sein Urteil verkünden.

© SZ vom 25.4.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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