Nürnberg: Schwere Misshandlung:Vater, Mutter und ein totes Kind

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Ein Baby ist tot. Verdächtig sind beide Eltern, unglaubwürdig auch: Richter versuchen herauszufinden, wie die neun Monate alte Faith gestorben ist.

Hans Holzhaider

Ein Kind ist tot. Ein kleines Mädchen, neun Monate alt. Sie hieß Faith, das englische Wort für Glaube. Faith war die Tochter von John O., 26, einem Nigerianer, der sich in Deutschland vergeblich um politisches Asyl beworben hat, und Tatjana C., 20 Jahre alt, deutsche Staatsbürgerin kroatischer Abstammung.

Die Angeklagte Tatjana C. im Gerichtssaal. Sie sagt, sie habe ihr Kind nicht umgebracht. (Foto: Foto: ddp)

Faith starb an den Folgen einer schweren Kopfverletzung. "Multipler Trümmerbruch im Bereich des hinteren Schädels", heißt das in der Sprache der Gerichtsmedizin. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass Faith mit dem Kopf gegen die mit Stoff überzogene Armlehne eines Sessels oder Sofas geschlagen wurde.

Die Sitzgarnitur, zu der dieser Sessel und dieses Sofa gehören, stand in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock eines Wohnblocks im Nürnberger Stadtteil Schweinau. Dort lebten John und Tatjana mit ihrer kleinen Tochter.

Einer von beiden muss dem Mädchen die tödlichen Verletzungen beigebracht haben. Aber wer? Die Mutter oder der Vater? Es gibt keine Zeugen, es gibt kein Geständnis, es gibt keine eindeutigen Beweise. Die Mutter sagt: "Ich war es nicht. John war's." Der Vater sagt: "Das ist nicht wahr."

Die Staatsanwaltschaft hat beide angeklagt. Sie glaubt, dass die Mutter das Kind zu Tode misshandelt hat, und dass der Vater nichts zur Rettung des Mädchens unternahm, obwohl er die lebensbedrohliche Situation erkannte. Das Gericht hat nur die Anklage gegen die Mutter zugelassen. Gegen den Vater, so entschieden die Richter der Jugendkammer am Nürnberger Landgericht, reichten die Beweise nicht aus.

Das Kind war tot

Das Oberlandesgericht Nürnberg hat diese Entscheidung bestätigt. John O. wurde nach mehr als einem Jahr in Untersuchungshaft auf freien Fuß gesetzt. Er nimmt jetzt als Nebenkläger am Prozess gegen seine ehemalige Lebensgefährtin teil. Und im Gerichtssaal herrscht tiefstes Unbehagen.

Denn es sind neue Indizien aufgetaucht, Indizien, die den Vater belasten. Nicht genug, um seine Schuld zu beweisen, aber doch genug, um Zweifel zu säen: Ist nicht vielleicht doch John O. schuld am Tod von Faith? Könnte Tatjana C. nicht doch unschuldig sein, trotz aller Widersprüche und Ungereimtheiten in ihren Aussagen, die von Anfang an den Verdacht auf sie gelenkt hatten?

Am 22. Juni 2006 gegen elf Uhr vormittags wurde die Nürnberger Rettungsleitstelle alarmiert: Ein Kind, das nicht mehr atmet. Als der Rettungswagen eintraf, wartete Tatjana schon mit Faith auf dem Arm in der Hofeinfahrt: Das Kind sei aus dem Bett gefallen, erklärte sie den Sanitätern.

Der Notarzt, der nur Minuten später kam, erkannte sofort: Das Kind war tot, und zwar schon seit mehreren Stunden. Die Obduktion beseitigte jeden Zweifel: So gravierende Schädelverletzungen konnten nicht durch einen Sturz aus dem Kinderbett entstanden sein.

Was also geschah wirklich in der Nacht, in der Faith starb? Das weiß niemand außer den beiden Eltern, und die Geschichten, die sie erzählen, könnten unterschiedlicher nicht sein. Tatjana holt weit aus in ihrer Erzählung. Wie sie John kennenlernte: Sie war erst 17, als er sie auf der Straße ansprach, und schon nach einer Woche fragte er sie, ob sie ihn heiraten wolle. Er hatte ein erhebliches Interesse, eine deutsche Frau zu heiraten - es war seine einzige Chance, eine Aufenthaltsberechtigung in Deutschland zu bekommen.

Dumpfe Schläge

Aber das ging selbst Tatjana zu schnell, obwohl sie sehr verliebt war. John sei so nett gewesen, sagt sie, sie habe ihm von ihrem gewalttätigen Vater erzählt, und er habe geschworen, so etwas werde er nie tun. Kaum war sie 18, da zogen sie zusammen, sehr gegen den Willen von Tatjanas Mutter. Sie wurde schwanger, hatte eine Fehlgeburt, wurde gleich wieder schwanger, im September 2005 kam Faith zur Welt.

Da war, sagt sie, John schon lange nicht mehr so lieb wie am Anfang ihrer Bekanntschaft. Er habe sie geschlagen, so gut wie jedes Wochenende. Er sei oft einfach weggegangen, ohne ihr zu sagen, wohin. Sie hatte den Verdacht, er habe was mit einer anderen Frau.

So sei es auch an jenem Tag gewesen. John war unterwegs, sie wartete und wartete, um drei Uhr nachts kam er endlich. "Ich habe ihm Vorwürfe gemacht. Wir haben gestritten. Faith ist aufgewacht." John sei ins Schlafzimmer gegangen, habe das Kind aus dem Bett gehoben, aber Faith wollte sich von ihm nicht beruhigen lassen.

Sie habe dann dumpfe Schläge aus dem Schlafzimmer gehört und immer das Schreien des Kindes. Sie habe nicht gewagt, das Zimmer zu betreten, aus Angst, den Mann noch mehr zu provozieren. Er sei dann mit dem Kind wieder aus dem Schlafzimmer gekommen, sie habe keine Verletzungen gesehen außer einer Beule auf der Stirn.

Dann habe John sie aus der Wohnung geworfen, sie habe das Kind nicht mitnehmen dürfen. Sie habe aus einer Telefonzelle versucht, ihn anzurufen, aber er habe nicht abgenommen. Sie habe sich dann zurück in die Wohnung geschlichen, habe Faith auf dem Sofa liegend gefunden, das Kind habe seltsam rhythmisch geatmet, sei aber dann eingeschlafen. Am nächsten Morgen gegen zehn Uhr habe sie festgestellt, dass Faith schlaff und leblos war, und habe den Notarzt alarmiert.

Angebliche Anrufe

An dieser Geschichte ist vieles, was Verdacht erregt. In ihren ersten Vernehmungen hatte Tatjana gesagt, John habe das Schlafzimmer von innen abgesperrt, während er das Kind misshandelte. Aber es gab gar keinen Schlüssel. Jetzt sagt sie, die Tür war offen. Wie soll man ihr glauben, dass sie tatenlos vor der Schlafzimmertür stehenblieb, wenn sie hört, dass drinnen ihr Kind misshandelt wird?

"Jede Mutter mit halbwegs normalen Gefühlen geht da rein und versucht, ihrem Kind zu helfen", hält einer der Richter der Angeklagten vor. Weiter: Im Schlafzimmer gibt es kein Möbelstück, das zu den Verletzungsspuren am Kopf des Kindes passen würde. Aber die stoffüberzogenen Armlehnen der Sitzgarnitur im Wohnzimmer würden sehr gut passen - es spricht also viel dafür, dass Faith dort und nicht im Schlafzimmer misshandelt wurde.

Die angeblichen Anrufe aus einer Telefonzelle sind nicht dokumentiert - in einer Telefonzelle werden die von dort gewählten Nummern gespeichert. Es ist gut nachvollziehbar, dass das Gericht die Geschichte, die Tatjana C. erzählt, mit erheblichem Misstrauen aufnimmt.

John O.'s Geschichte ist kürzer und weit weniger verzweigt. Es war Fußballweltmeisterschaft. Er hat sich auf dem Nürnberger Hauptmarkt das Spiel Ghana-USA angeschaut. Ghana gewann 2:1, alle Afrikaner jubelten. Er sei mit ein paar Engländern stundenlang herumgelaufen, hat ein oder zwei Bier getrunken, und ist dann mit dem Nachtbus nach Hause gefahren.

Als er in die Wohnung kam, lag Tatjana im Bett, sie war wach und hat sich wortlos zur Wand gedreht, als er sich neben sie legte. Er sei dann eingeschlafen. Irgendwann sei er aufgewacht, weil Faith weinte. Tatjana war mit ihr im Wohnzimmer. Faith hatte einen blauen Fleck auf der Stirn. Er habe eine Schmerzsalbe daraufgestrichen. Dann sei er wieder ins Bett gegangen und habe weitergeschlafen.

Einer lügt

Am Morgen, er weiß nicht wann, habe Tatjana nach ihm gerufen. Faith habe regungslos auf dem Sessel gelegen. Er habe ihr das Gesicht mit einem nassen Handtuch abgetupft, sie habe nicht reagiert. "Ich gab ihr das Telefon und sagte, wir müssen den Notarzt anrufen. Wir gingen runter, um auf den Arzt zu warten. Dann haben sie mir gesagt, dass meine Tochter tot ist."

Auch diese Geschichte hat ein paar Schwachpunkte. Der Abend in der Stadt ist möglicherweise anders verlaufen, als John O. ihn geschildert hat. Auf seinem Handy fand die Polizei ein an diesem Abend aufgenommenes Foto von zwei Personen - John O. sagt, die kenne er nicht.

Mit seinem Handy wurde ein langes Gespräch geführt mit einer Nummer, die unter dem Namen "Alice" gespeichert ist - John O. sagt., er habe nicht telefoniert, er kenne keine Alice. Das hat nichts mit der Tötung des Mädchens Faith zu tun, aber es sagt möglicherweise etwas aus über die Glaubwürdigkeit des Vaters.

Vater, Mutter, und ein totes Kind - einer der beiden lügt, das ist offensichtlich. Aber wer? Oder lügen vielleicht beide? Tatjana C. hat sich widersprochen, sie hat ihre Aussage mehrmals abgeändert. Das spricht gegen sie, aber reicht es aus, um sie zu verurteilen? Die Zweifel daran wachsen. Denn kurz vor Prozessbeginn ist etwas geschehen, das allen Beteiligten sehr zu denken gibt.

Als John aus dem Gefängnis kam, fand er Unterkunft bei seiner Schwester Victoria. Sie hat vier Kinder, die beiden Zwillinge waren erst wenige Monate alt. John wohnte kaum ein paar Tage bei seiner Schwester, da holte sie die Polizei. Sie hatte ihn aus der Wohnung gewiesen, und er hatte gewaltsam versucht, sich wieder Zutritt zu verschaffen. Und warum hatte sie ihn hinausgeworfen?

John hatte, sagt Victoria jetzt als Zeugin vor Gericht, vom Geschrei der Babys genervt, dem einen der Säuglinge ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. Sie habe ihn angeschrien: "Willst du es umbringen?" Und er habe geantwortet: "Ich habe schon jemanden umgebracht. Es ist mir egal, wenn ich wieder ins Gefängnis komme."

"Stimmt das?", fragt einer der beisitzenden Richter den Zeugen John O. Er antwortet: "Mein Anwalt hat mir geraten, dazu nichts zu sagen."

© SZ 5.12.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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