Missbrauchsprozess von Eschenau:Schuld, Scham und Schweigen

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Die missbrauchte Heidi Marks wollte nicht, dass die Taten immer weitergehen - nun beginnt ein Prozess. Doch das unterfränkische Dorf Eschenau bestraft die Opfer schon auf seine Weise.

Olaf Przybilla

Was Heidi Marks in diesem einen Moment geritten haben mag, weiß sie sieben Monate danach nicht mehr präzise zu sagen. Die Frau aus Fort Wayne im US-Bundesstaat Indiana weiß nur noch, dass es ein besonders geselliger Moment gewesen sein muss, an einem runden Biertisch im fränkischen Dorf Eschenau. Man plauderte, es ging einfach darum, wie sehr Heidi Marks, 50, die vergangenen Urlaubstage genossen hatte, stille Tage in Eschenau.

Großes Medieninteresse beim Prozessauftakt in Bamberg (Foto: Foto: ddp)

Marks, die in Indiana Berufsschüler am Computer ausbildet, hatte die Reise in ihre Vergangenheit von ihren Eltern geschenkt bekommen. Ihren 50. Geburtstag sollte die Lehrerin nicht in irgendeiner Stadt, 160 Meilen entfernt von Chicago, verbringen. Sondern zu Hause in Franken, dort, wo die Frau die ersten 15 Jahre ihres Lebens verbracht hatte.

Es ist nicht übertrieben, sagt Marks, dass dieser eine Abend ihr Leben in zwei Teile getrennt hat, eine Zeit vor und eine Zeit nach der geselligen Runde. Der Abend hat gleichwohl nicht nur ihr Leben verändert. Er hat das Weindorf am Nordrand des Steigerwalds in ein Chaos gestürzt, von dem es sich noch sechs Monate danach nicht erholt hat.

Riss durch das Dorf

Ein Mann aus dem Dorf hat sich erhängt. Ein anderer hat versucht, sich das Leben zu nehmen, er steht von diesem Mittwoch an vor Gericht. Und die Schwester von Heidi Marks musste aus dem Dorf wegziehen, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, dass ihre Familie beschimpft wird und ihre Kinder von allen anderen geschnitten werden. Was bleiben wird von dem Abend, sagt Horst Hauck, der Leiter des Eschenauer Posaunenchors, ist ein Riss quer durch das Dorf.

Zwar könne dieser unter Umständen ein wenig gelindert werden durch die Anklage gegen einen 60 Jahre alten Kaufmann, der sich nun vor dem Landgericht in Bamberg wegen mehrfachen Kindesmissbrauchs verantworten muss. Hinreichend viele Antworten aber erwartet sich Hauck nicht von dem Prozess. Er ist sich sicher, dass Fragen bleiben werden, "Fragen für die Ewigkeit".

Zwei Namen und Entsetzen

Was ist passiert an jenem Abend im April? Zu vorgerückter Stunde, erinnert sich Marks, habe ihre Jugendfreundin sie auf einen Bericht in der Lokalzeitung angesprochen. Immer häufiger werden Sexualdelikte aufgeklärt, stand dort zu lesen. Und in diesem einen, unbeherrschten Moment fragte Marks: "Kann es nicht sein, dass einfach mehr Frauen den Mut aufbringen, ihre Peiniger anzuzeigen?"

Sie löste eine Lawine damit aus. Denn die Freundin bestätigte die These ausgerechnet mit zwei Fällen aus dem unterfränkischen Eschenau, einer bäuerlich geprägten Gemeinde mit 32 Häusern und 189 Einwohnern. Beide Anzeigen hatten den Ort nicht groß aus der Ruhe gebracht, die Ermittlungen waren eingestellt worden, wegen Verjährung.

Marks benannte beide Männer spontan beim Namen - und löste Entsetzen am Tisch aus. Der eine Nachbar, erzählte sie, habe sich an ihr vergangen, als sie vier Jahre alt war. Wenn sie das zu Hause erzähle, hatte er ihr gesagt, werde er dafür sorgen, dass ihre Eltern aus dem Dorf getrieben werden. Sie galten als Zugezogene in Eschenau. Zehn Jahre später bedrängte sie der nächste Nachbar. "Ich hielt das als Kind irgendwann fast für normal", sagt Heidi Marks.

Fall verjährt

Am Tag nach der Runde, wenige Stunden vor dem geplanten Rückflug nach Indiana, ging die Lehrerin zur Kriminalpolizei. Sie habe 46 Jahre lang geschwiegen, erklärte sie den Beamten, aus Scham. Nun aber müsse sie erkennen, dass das offenbar immer so weitergeht in Eschenau. Bis heute ermittelten die Beamten vier Mädchen, an denen sich der jetzt angeklagte Kaufmann zwischen 1978 und 2005 sexuell vergangen haben soll.

Eine der Geschändeten ist Heidi Marks, ihr Fall indes kommt nicht zur Anklage, er ist ebenfalls verjährt. Die Frau aus Indiana ist deshalb nur als Zeugin geladen. Gekommen, sagt sie, wäre sie auch ohne Vorladung. "Ich brauche das, um diese Sache irgendwie abschließen zu können."

Abgeschlossen, sagen sie im Dorf, kann der Fall auch nach dem Urteil nicht sein. Denn verantworten muss sich nur einer der beiden Männer - ein offenbar zu Pädophilie neigender 60-Jähriger, der laut Staatsanwaltschaft inzwischen ein Teilgeständnis abgelegt hat. Der andere kann nicht mehr angeklagt werden, denn er hat sich am Himmelfahrtstag in einer Scheune das Leben genommen.

Diese Tat, sagt ein Mitarbeiter der Opferhilfsorganisation Weißer Ring, sei der eigentliche Grund für die "furchtbaren Verwerfungen" in Eschenau. Denn der 53 Jahre alte Landwirt war nicht irgendwer im Dorf. Er leitete den Jägerverein, war Schöffe bei Gericht und galt als besonders honoriger Funktionär des Bauernverbandes im Landkreis Haßberge. Im Dorf nannten sie ihn mit Respekt den Millionenbauern, seiner großen Traktoren wegen. Ein vorbildlicher Familienvater sei er gewesen, sagt Willi Schwappacher, ehemaliger Gemeinderat, der drei Höfe entfernt wohnt.

Wie fast alle im Dorf hat Schwappacher den Abschiedsbrief des Großbauern gelesen, den sie sogar in der Heimatzeitung veröffentlicht wissen wollten. "Die Familien und ihre Helfershelfer", stand auf dem Zettel gekritzelt, "werden mit ihren Anschuldigungen und Lügen nicht aufhören. Und ich werde nicht büßen für Dinge, die ich nicht getan habe." Im Dorf, sagt Schwappacher, habe man nicht den geringsten Anlass, an den letzten Worten des Mannes zu zweifeln.

Aus Opfern Täter gemacht

Genau das meint Horst Hauck, der Posaunist, wenn er von offenen Fragen für die Ewigkeit spricht. Hauck ist einer der Letzten im Dorf, die sich noch namentlich zitieren lassen. Die vergangenen sechs Monate haben ein "friedliches fränkisches Dorf" im Kern getroffen, sagt er, "uns wurde hier jeder Schweinkram der Welt angedichtet." Was Hauck, der auch als Lektor für die evangelische Kirchengemeinde arbeitet, nicht erzählt: Dass sie in Eschenau seither versucht haben, aus Opfern Täter zu machen.

Bereits wenige Tage nach ihrer Anzeige musste Heidi Marks das Dorf fluchtartig verlassen. Der Wirt des einzigen Gasthofes hatte ihr von einem angeblich wohlmeinenden Anrufer berichtet, der zu wissen glaubte, dass "hier bald etwas passieren wird", falls die Urlauberin aus Amerika nicht endlich verschwindet. Der Weiße Ring berichtete in der Folge von "eskalierenden Zuständen" in Eschenau. Auf einer Ortsversammlung gab Bürgermeister Werner Schneider besänftigend zu bedenken, Sätze wie "Ich schlag' dir den Schädel ein" dürften nicht dauerhaft zum Umgangston in Eschenau gehören.

In seinem Büro in Knetzgau, der Großgemeinde, zu der Eschenau gehört, erinnert Schneider an die vorübergegangenen Tage. Der Ortsteil Eschenau mit der schönen gelben Zwiebelkirche hatte ihm stets als Vorzeigedorf gedient. Dort, erklärte der Bürgermeister Besuchern, richten sie jedes Jahr ein Dorffest aus, wie es kein anderes gibt in Knetzgau. In den Ortsteilen der Stadt werden viele Feste gefeiert, Schneider weiß von mehr als hundert. Aber keines war so wie das in Eschenau, das die Bewohner selbst auf die Beine stellten, mit Hüpfburg und fränkischer Hausmacherwurst.

In die Flucht geschlagen

Den Erlös spendet die Dorfgemeinschaft traditionell der Gemeindekasse, wichtige Anschaffungen konnten sie sich so leisten, zuletzt einen rundum erneuerten Dorfbrunnen. Nur in diesem Jahr stand bei der Vorbereitung des Festes plötzlich der Zeugwart der Feuerwehr auf und sagte, dass im Dorf ermittelt werde, wegen Missbrauchs von Kindern. Das Fest fiel ins Wasser.

Jeder im Dorf, sagt Horst Hauck, sei der Meinung, dass Unrecht gesühnt werden muss. Aber der Zeitpunkt, an dem die Opfer sich zu erkennen gaben, diesen Zeitpunkt hätte man auch anders wählen können.

Trotz aller Ermahnungen des Bürgermeisters sah sich die Schwester von Heidi Marks gezwungen, mit ihrer Familie wegzuziehen. Spätestens, als zwei Autos der Familie beschädigt waren - dicke Nägel steckten senkrecht in den Reifen -, habe man gewusst, was die Stunde geschlagen hat. Die Familie wohnt jetzt gerade weit genug entfernt, um die Kinder in eine andere Schule schicken zu können.

Zurückgeblieben in Eschenau sind die Eltern von Heidi Marks. Falls sie es finanzieren kann, will sie die beiden alsbald ebenfalls aus dem Dorf holen. Allein ihrer Mutter hatte sie vor einigen Jahren angedeutet, was sie als Vierjährige zu erleiden hatte. Bei einem Besuch in Indiana wollte die Mutter endlich wissen, warum Heidi schon als 15 Jahre altes Mädchen aus dem Dorf geflüchtet war. Warum sie immer so merkwürdig abweisend wirkte. Und warum sie als 25-Jährige nach Amerika übersiedelte.

In Fernsehsendungen ließen die Eltern damals nach ihr suchen, weil ihre Tochter niemandem erzählt hatte, wohin die Reise gehen sollte. Der Mutter gegenüber beließ es die Lehrerin damals bei einer flüchtigen Andeutung. Sie habe sich zu sehr geschämt, sagt Heidi Marks.

© SZ vom 10.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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