Mehr Sorgerechtsentzüge:Wenn Eltern scheitern

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Die Zahl der Sorgerechtsentzüge in Bayern steigt drastisch, vor allem weil alle bei Anzeichen von Vernachlässigung oder Misshandlung genauer hinsehen. Doch der Sorgerechtsentzug ist ein massiver Eingriff - die Frage, wann er gerechtfertigt ist, ist deshalb heikel.

Nina Bovensiepen

Es gibt die ganz heftigen Fälle, die eindeutig sind. Markus Peick hat vor einigen Jahren einen solchen erlebt. Der Polizei war gemeldet worden, dass es in Neuperlach in einer Wohnung hoch hergehe. Ein Mann attackiere seine Frau mit Bierflaschen, vermutlich seien die Kinder in der Wohnung. "Die Familie war uns bekannt", sagt Peick, der damals als Bezirkssozialarbeiter arbeitete, "wir haben sofort eingegriffen." Begleitet von Polizisten ging er in die Wohnung und schnappte sich die Kinder. Raus aus der Gewaltzone. Den Eltern wurde kurz darauf das Sorgerecht entzogen.

Kinder haben normalerweise ein Urvertrauen in ihre Eltern. Missbrauch oder Misshandlung können das zerstören. Als letztes Mittel kommt dann ein Sorgerechtsentzug in Betracht. (Foto: dpa)

Sorgerechtsentzug. Für die meisten Menschen ist das ein Begriff aus dem Familienrecht, der sie nicht tangiert. Für Kinder wie Eltern dagegen, die damit in Berührung kommen, ist es ein krasser Eingriff in das Leben als Familie. Ein Eingriff, der oft mit Gewalt einhergeht, fast immer mit Dramatik und Schmerz.

Die Zahl der Menschen, die das erleben, steigt. Deutlich. Im vergangenen Jahr, so hat es das Statistische Landesamt kürzlich mitgeteilt, wurde das Personensorgerecht in Bayern in 1236 Fällen ganz oder teilweise auf Jugendämter übertragen. 2004 waren es erst 727 Fälle. Das bedeutet innerhalb von sieben Jahren eine Steigerung um 70 Prozent. Bundesweit und bezogen auf München sehen die Zahlen ähnlich drastisch aus.

Und das, obwohl zumindest der komplette Sorgerechtsentzug als Ultima Ratio gilt, als allerletztes Mittel. "Das Kindeswohl muss massiv und ganz konkret gefährdet sein, um solch einen Eingriff zu rechtfertigen", sagt Birgit Benesch, Familienrichterin am Münchner Amtsgericht. Das Elternrecht, das hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach betont, ist hoch einzustufen. Ebenso das Recht der Kinder auf elterliche Sorge.

"Wenn ein Elternteil den Kontakt zum Kind schleifen lässt, reicht das nicht, um das Sorgerecht zu entziehen", sagt die Münchner Familienanwältin Monika Buhl-Müller. Auch nicht, wenn die Mutter sich mit Aids infiziert oder der Vater eine Geschlechtsumwandlung vornehmen lässt - entsprechende Fälle sind bereits vor deutschen Gerichten gelandet. Für einen Sorgerechtsentzug muss mehr passiert sein. Ein Kind muss missbraucht oder misshandelt worden sein; oder eine Alkoholabhängigkeit der Eltern geht einher mit schweren psychischen Erkrankungen und Selbstmordgefahr.

Lieber einmal zu viel etwas getan als zu spät

Die steigende Zahl von Sorgerechtsentzügen bedeutet nicht, dass Gewalt und Drogenmissbrauch massiv zugenommen hätten. Die Gründe sind andere. Einer ist Kevin. Schicksale wie das des Bremer Buben, der im Januar 2004 in ein nur 34 Monate währendes, quälendes Dasein hineingeboren wurde, bevor seine Leiche im Kühlschrank des Vaters gefunden wurde. Seitdem sind die alle aufmerksamer geworden. Ärzte, Polizisten, Erzieher, Nachbarn. "Wenn es um Kinder geht, ist bei den meisten Menschen eine Grenze erreicht", sagt Anwältin Buhl-Müller. Da sorgen sich die wenigsten, ob sie als Denunzianten gelten könnten. Lieber einmal zu viel etwas getan als zu spät.

Auch die Rechtslage hat sich verändert. Was selbst viele Eltern nicht wissen: Seit 2000 ist es verboten, den Nachwuchs körperlich oder anders zu züchtigen. "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig", heißt es im Bürgerlichen Gesetzbuch. Der sogenannte Klaps auf den Po, einst in mancher Familie selbstverständlicher Teil der Erziehung, kann heute zur Anzeige führen. Es wird wohl kein Richter den Eltern das Sorgerecht absprechen, wenn so etwas einmal passiert. Aber die Ausgangslage ist völlig anders.

Das gilt auch für die Arbeit der Jugendämter. Sie greifen heute früher ein, wenn sie merken, dass in Familien etwas schief läuft. Gerichte ebenso. Nicht immer muss es zu einem Urteil kommen, manchmal reicht ein Gespräch. "Da kann alleine die richterliche Autorität etwas bewirken", sagt Richterin Benesch.

Meistens ist es ein komplexer Prozess, bis das Sorgerecht entzogen wird. Am Anfang steht oft ein Warnzeichen aus dem Umfeld. Eine Kindergärtnerin sorgt sich, weil ein Mädchen immer ängstlich ist, wenn der Papa es abholt. Oder ein Erzieher berichtet, dass eine süchtige Mutter mit ihrem Kind regelmäßig an Drogenumschlagsplätzen gesichtet wird. "Als erstes geht es darum, das Vertrauen der Leute zu gewinnen, sie von einem Gespräch zu überzeugen", erzählt Peick, der heute in der Leitung der Münchner Bezirkssozialarbeit tätig ist. Darin wird etwa der süchtigen Mutter klar gemacht, dass sie sich und das Kind gefährdet. "Ziel ist es, dass die Frau eine Therapie macht und ansonsten in der Lage ist, für sich und das Kind zu sorgen", sagt Peick.

Darum geht es in erster Linie: Vater und/oder Mutter sollen die elterliche Sorge erfüllen. Anspruch ist es nicht, dem Kind die schönste aller Welten zu bescheren, auch dies haben die Verfassungsrichter betont. "Zum Wächteramt des Staates gehört nicht, das bestmögliche Umfeld zu schaffen", sagt Benesch. In guter Absicht wollten Jugendämter manchmal mehr. Das sei ehrenwert, aber nicht ihre Aufgabe.

Diese erschöpft sich mitunter darin, dass es ein paar Schritte vorwärts geht - und dann wieder zurück. Im Fall der Neuperlacher Familie, den Markus Peick vor einigen Jahren erlebt hat, war das so. Zunächst wurde den Eltern das Sorgerecht entzogen. Die Kinder kamen zum Großvater, der als zuverlässig galt. Als der gewalttätige Vater ausgezogen war, kehrten die Kinder zur Mutter zurück, die auch wieder das Sorgerecht erhielt. Nach einiger Zeit erlaubte sie Besuche des Mannes, obwohl das gerichtlich untersagt war. Schließlich versöhnten die Eltern sich. Der Vater zog wieder ein.

Ende gut, alles gut? Mitnichten.

Er schlug wieder zu. Die Attacke war heftig. Die Frau zeigte den Mann an und drängte darauf, dass die Kinder in ein Heim kommen sollten. Zum Schutz vor dem eigenen Vater.

Nach einigen Monaten im Waisenhaus kehrten die Kinder wieder heim zur Mutter, die Eltern hatten sich getrennt. Trotzdem gab es bald wieder Kontakte zum Vater, diesmal als vom Jugendamt begleiteter Umgang. "Kinder haben ein Recht darauf, ihren Vater zu sehen", sagt Peick. Das wird manchmal vergessen. Viele Menschen würden schlagenden Eltern gerne für immer und ewig den Kontakt zum Nachwuchs verbieten. Aber so sind weder die Gesetze noch das Leben.

Irgendwann zog die Familie weg. Wenn das passiert, informieren sich die Jugendämter gegenseitig darüber. Um die Familie kümmert sich nun vielleicht ein anderes Amt. Falls es nötig ist. Und falls es bemerkt wird, wenn es nötig ist.

© SZ vom 04.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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