Martinszell:Mehr als eine Haushaltshilfe

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Wenn die Mutter krank wird, wenn Unterstützung gebraucht wird in Haus und Hof, dann kommt Angelika Reichart. Sie ist eine von 200 Dorfhelferinnen in Bayern. Für die Familien formt sie nicht nur massenweise Knödel

Von Katharina Schmid, Martinszell

Das Fett zischt in der Pfanne. Vier Töpfe stehen auf dem Herd und dampfen. Jan, vier Jahre, fetzt durch die Wohnung, die zweijährige Lucia sitzt am Küchentisch und malt. Durch die beschlagenen Küchenfenster sind die Hügel nahe dem Niedersonthofener See kaum mehr zu erkennen. Eine Frau mit gelb-blau gestreifter Schürze und praktischem Kurzhaarschnitt hat alles im Blick; dabei sind die Kinder, die sie beaufsichtigt, nicht ihre eigenen. Die Küche, in der sie kocht, ist nicht die ihre. Angelika Reichart ist Dorfhelferin, ihr Arbeitsleben spielt in den Küchen und Wohnungen ihrer Einsatzfamilien im Landkreis Oberallgäu.

Reichart ist eine Frau mit Prinzipien: "Wenn die ganze Familie heulet und plärret, dann kannst dich nicht auch dazuhocken und plärren, da musst einen klaren Kopf behalten", sagt sie im Oberallgäuer Dialekt. Seit 42 Jahren, erst als Betriebs-, dann als Dorfhelferin, kümmert sich Reichart um Familien, die Unterstützung brauchen. Sie ist eine von etwa 200 Dorfhelferinnen in Bayern, die immer dann im Haushalt und auf dem Hof einspringen, wenn die Mutter krank ist, ein Kind kommt oder aus anderen Gründen Hilfe nötig wird. "Ich hab' einfach immer gespürt, da wo eine Not ist, da wo man einen braucht, da gehör' ich hin", sagt Reichart über sich selbst. Die 63-Jährige gießt dampfende Milch über das Knödelbrot, schlägt Eier dazu, gibt ein wenig Mehl bei, würzt mit Salz und Pfeffer. Die Handgriffe sitzen, diese Hände haben schon viele Knödel gedreht. An diesem Tag kneten sie den Teig für mehr als ein Dutzend davon. Reichart kocht für die siebenköpfige Familie Ettensperger, fünf Kinder im Alter von zwei bis 13 Jahren sollen satt werden. Da geht es um Mengen, die anderswo höchstens anstehen, wenn die Großeltern eingeladen sind. Für Reichart, die selbst keine Kinder hat, sind diese Mengen Alltag. "Ich habe immer gern gekocht", sagt sie. "Und wenn ich koche, dann auch gern viel. Da tu' ich mir leichter, als wie nur für meinen Mann und mich zu kochen."

Gelernt hat sie das schon als junges Mädchen, daheim bei der Mutter. Als Reichart 15 ist, stirbt ihr Vater bei einem Unfall. Ihre Mutter steht mit Angelika, den vier jüngeren Brüdern und einem Milchviehbetrieb von heute auf morgen alleine da. Ob sie will oder nicht, lernt das Mädchen in dieser Situation das Zupacken. Und Angelika Reichart will. "Meine Mutter war allein mit uns Kindern. Da hab' ich nicht wegkönnen, da musst' ich einfach helfen. Und ich hab's immer gern gemacht." Die Landwirtschaft und der Haushalt, das ist ihre Welt. Die junge Frau macht eine Lehre zur ländlichen Hauswirtschafterin, besucht die Landwirtschaftsschule, aber an erster Stelle stehen für sie immer die Familie und der elterliche Hof. Ihre anpackende Art, ihr Organisationsgeschick, das Talent, eine Horde Kinder im Griff und nebenbei auch noch den Haushalt am Laufen zu halten, all das hat sie aus dieser Zeit.

Angelika Reichart hat schon in vielen Küchen Semmelknödel gekocht und meistens viele davon. (Foto: Johannes Simon)

Lucia, versunken in ihr Malbuch, summt vor sich hin. Neben ihr steht die Schüssel mit dem Knödelteig, aus dem Reichart mittlerweile perfekte runde Knödel formt. Um halb zwei kommen Anna, 13, und Klára, elf, aus der Schule, dann soll das Essen auf dem Tisch stehen. Zu den Semmelknödeln gibt es Rinderbraten, zwei verschiedene Soßen und Salat, weil "ohne Salat ist es kein gscheites Essen", sagt die Dorfhelferin.

Dreimal war sie bei der Familie Ettensperger schon im Einsatz. Beim ersten Mal hatte sich die Mutter den Finger gebrochen. Jan, das zweitjüngste der fünf Kinder, war damals noch ein Baby, sechs Wochen alt. Außer Stillen konnte Mutter Jana mit der verletzten Hand nicht viel tun; das Baby wickeln, es baden - ging alles nicht. Also beantragte sie eine Haushaltshilfe und bekam vom Maschinen- und Betriebshilfering, der die Einsätze der Dorfhelferinnen im Oberallgäu koordiniert, Angelika Reichart zugewiesen. Zuerst sei es nicht so leicht gewesen, als Mutter einer wildfremden Frau beim Wickeln der eigenen Kinder zuzusehen. "Aber dann war ich so froh um die Angelika. Sie hat sich voll auf die Familie eingelassen, die Kinder haben sie sofort gemocht, und wir haben sie nur ungern wieder hergegeben", sagt Ettensperger.

Nicht mit jeder Einsatzfamilie verbindet Reichart ein so enges Verhältnis. Manchmal treffen Charaktere aufeinander, die einfach nicht zusammenpassen. Und eigentlich ist Reichart sowieso überzeugt davon, Beruf und Privatleben zu trennen: "Einsatz ist Einsatz, und daheim ist daheim." Das schärft sie auch immer wieder jüngeren Kolleginnen ein. Ihr müsst lernen, die Tür fest hinter euch zuzuschlagen, sagt sie dann. "Man kann's nicht immer ganz. Aber man muss es versuchen, weil sonst arbeitet einen der Beruf auf."

Schwer erkrankte Mütter, überforderte Väter und kleine Kinder, die nicht recht verstehen, was der Mama fehlt. Wenn Reichart in solche Situationen kommt, ist Einfühlungsvermögen verlangt und oft ist sie dann nicht nur Haushaltshilfe, sondern auch Seelentrösterin. Aber wie selbst mit dieser Belastung umgehen? Sie sei ein ausgeglichener Mensch und könne gut abschalten. Und noch etwas hilft ihr. "Ich habe einen starken Glauben", sagt sie. "Ich hab' allerweil mit dem obersten Chef geschwätzt und hab' gesagt, 'Lieber Gott, hilf mir, dass ich's recht mach'."

Die kleine Lucia kennt die Dorfhelferin längst. (Foto: Johannes Simon)

Recht gemacht hat sie es in den allermeisten Fällen. Cordula Epp, Reicharts Einsatzleiterin vom Maschinenring Oberallgäu, sagt über sie: "Die Angelika bringt mit ihrer gelassenen Art einfach eine große Ruhe in die Familien. Sie hat sofort den Überblick, geht hin und weiß, was zu tun ist." Bei Johanna Hell von der Katholischen Dorfhelferinnen und Betriebshelfer in Bayern GmbH klingt das ähnlich: "Angelika strahlt eine so große Herzlichkeit aus, da kenne ich fast keine Zweite."

Maximal acht Stunden arbeitet Reichart als Dorfhelferin am Tag; mit dem Wäsche waschen, dem Kochen, dem Versorgen der Kinder, manchmal noch der Stallarbeit, sind die schnell vorbei. Kommt sie dann heim zu ihrem Mann, braucht sie erst mal Ruhe; "und dann geht es weiter", sagt sie und lacht, "mit dem eigenen Haushalt." Viel Kraft ist dafür nötig, manchmal habe der Beruf sie an ihre Grenzen gebracht, erinnert sich Reichart; aber ihre Energie hat die Dorfhelferin nie verloren: "Mich schmeißt so schnell nichts um", sagt sie, und wer sie sieht, glaubt ihr das.

Es ist halb zwei, das Essen im Hause Ettensperger steht auf den Tisch. Auf den Tellern dampfen die warmen Knödel. Ein Teil ihres Tages als Dorfhelferin hat Reichart geschafft. Wenn sie sich abends in ihrem roten Caddy auf den Heimweg macht, ist Angelika Reichart nach so einem Tag meistens zufrieden. Ist das mal nicht der Fall, stöbert sie daheim in den Karten, die sie von ihren Einsatzfamilien bekommen hat. Da liest sie dann Dinge wie "Du hast uns allen gut getan". 42 Jahre lang haben ihr solche Worte Kraft für ihren Beruf als Dorfhelferin im Oberallgäu gegeben. Jetzt geht Angelika Reichart in Rente.

© SZ vom 17.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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