Kramerladen auf dem Land:Bis zur letzten Banane

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Kälberstricke, Romanhefte, Malerpinsel und Semmeln: Seit 1919 gibt es in Kasparzell den Kolonialwarenladen Holzapfel. Inhaberin Hildegard Höglmeier trotzt den Discountern ebenso wie der Abwanderung aus dem Dorf.

Von Hans Kratzer

Das Kilo Qualitätsnägel kostet im Kramerladen von Hildegard Höglmeier drei Euro. Bei diesem Preis-Leistungsverhältnis kann sich ein Heimwerker aus dem Bayerwald-Dorf Kasparzell die Fahrt zum fernen Baumarkt ruhig sparen. Und die unvergleichliche Einkaufs-Atmosphäre gibt's kostenlos dazu. Im Kramerladen werden die Nerven weder durch Dudelmusik noch durch Sonderangebots-Durchsagen strapaziert. Vielmehr obwaltet hier eine fast klösterliche Bedächtigkeit.

Gerade kommt der Haimerl Hans hereinspaziert, der kurz grummelt und den Geldbeutel zückt, während Frau Höglmeier bereits die Zigaretten aus dem Regal holt. Sie kennt die Vorlieben ihrer Kunden in- und auswendig, Worte müssen nicht gewechselt werden. Der Hans reicht ihr einen Fünf-Euro-Schein über die Ladentheke und macht wieder kehrt. "Pfiat di Hans", ruft sie ihm nach. So klingt eine auf den Kern reduzierte Dorfkommunikation, karg, ohne Anwanzerei und doch freundlich vertraut.

Als Josef und Sophie Holzapfel im Jahre 1919 das Geschäft in Kasparzell gründeten, lag ganz Bayern kriegsgeschwächt am Boden, und in den Städten tobte die rote Revolution. Ein Laden zu eröffnen, war damals ein mutiger Schritt, denn die Menschen hatten wenig Geld und versorgten sich mehr schlecht als recht selber. Genussmittel gönnten sie sich nur selten. Gleichwohl wird die Krämerei in Kasparzell Neugierde geweckt haben, stand doch in dicken Lettern das Wort "Kolonialwaren" am Giebel des Hauses.

Unvorstellbare Schätze aus fernen Kolonien gab es dort zu kaufen: Zucker, Kaffee, Reis, Kakao, Gewürze und Tee. Lauter Dinge, die sonst nur von Stadtmenschen konsumiert wurden. Doch die Familie Holzapfel behauptete sich. Die Krämerei und eine kleine Landwirtschaft warfen so viel ab, dass sie viele Jahrzehnte lang davon leben konnte.

Die Stammkundschaft stirbt langsam weg

Der Enkelin Hildegard Höglmeier bringt der Laden nur noch ein kleines Zubrot ein. Aber aufgeben will sie auf keinen Fall. 1995 haben sie und ihr Mann das Geschäft von den Eltern übernommen, die es selber über schwierigste Zeiten gerettet hatten. Der Vater war im Krieg in Gefangenschaft geraten und in die Fremdenlegion gesteckt worden. In ihren Diensten weilte er zehn Jahre lang in Indochina. "Als er zurückkehrte, konnte er fast nicht mehr deutsch sprechen", erinnert sich Frau Höglmeier.

Umso mehr hält sie an dem Laden fest, der ihr eine Herzensangelegenheit ist. 60 Stammkunden hatte sie anfänglich, heute sind es gut 30. "Die Alten im Dorf sterben weg", sagt sie, und die Jungen kaufen meistens in den Großmärkten in der Umgebung ein.

Um 6 Uhr früh wird der Laden aufgesperrt, um diese Zeit läuft das Hauptgeschäft, die Dörfler sind Frühaufsteher. Semmeln, Zeitung, Zigaretten - das ist das Grundsortiment. Um 12 Uhr mittags sperrt Frau Höglmeier wieder zu. In Notfällen hilft sie auch außerhalb der Geschäftszeiten. "Hin und wieder klopft jemand mitten in der Nacht ans Fenster."

Bis in die 70er Jahre hinein gab es noch in beinahe jedem Dorf einen solchen Laden. Dann setzte der Verdrängungswettbewerb durch die Discounter und Supermärkte ein. Mit den Kleinbauern verschwanden auch die Krämereien aus den Dörfern. Seit einigen Jahren werden zwar wieder Dorfläden eröffnet, doch den Preiskampf mit den Großkonzernen überleben sie nicht immer.

Der Kolonialwarenladen in Kasparzell war ein Multifunktionsdienstleister. In den 50er und 60er Jahren war dort das einzige öffentliche Telefon weit und breit eingerichtet. Die Leute konnten von hier nach der Vermittlung durch das Fernmeldeamt einen Arzt oder eine Hebamme anrufen. Falls eine Nachricht übers Telefon einging, überbrachte sie ein Mitglied der Familie Holzapfel. Gelegentlich lockten die Waren auch Gesindel an. Sogar die berüchtigte Landstorfer-Bande habe anno 1932 hier eingebrochen, erzählt Frau Höglmeier. Anton Landstorfer, der Kopf der Bande, wurde Jahre später als Mörder hingerichtet.

Spiegel der dörflichen Befindlichkeit

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Heute spiegelt der Laden die Befindlichkeit des 200-Einwohner-Dorfes fast idealtypisch wider. Das Zeitschriftenregal mit Bild und Fernsehblättern ist eher karg bestückt. Dafür herrscht auf den übrigen Regalen kein Mangel an nützlichen Dingen: Bananen, Kälberstricke, Gießkannen, Malerpinsel, Wäscheleinen, Bürsten, Klupperl und Reißnägel, mit denen hin und wieder noch jene altmodischen Fliegenfänger befestigt werden, die mit ihrem süßlichem Klebstoff die Plagegeister anlocken, damit sie dann daran kleben bleiben.

Eine museale Rarität ist der Zoitlständer, der schon im Kolonialwarenladen des Großvaters auf dem Ladentisch stand. Auf einer Drehvorrichtung sind verschraubbare Glaskugeln befestigt, in denen verführerisch Gummi-Colaflascherl, zuckrige Erdbeeren und Kirschlutscher lagern. "Die Schwammerl gehen am besten", sagt Frau Höglmeier. Das sind Bonbons von weicher Konsistenz, drei Stück gibt's zu zehn Cent. Bei den Kindern von Kasparzell weckt der Zoitlständer immer noch ähnliche Sehnsüchte wie einst, als Guatl und Süßigkeiten bei der Dorfjugend so begehrt waren wie heute ein Smartphone mit Flatrate.

© SZ vom 04.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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