Kindsvernachlässigung in Schwaben:Das Baby aus der Müllhölle

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Rettung in letzter Sekunde:Die Polizei findet in Illertissen ein zehn Wochen altes Mädchen kurz vor dem Hungertod. Die Eltern sind drogenabhägig

Stefan Mayr

Das Baby lag abgemagert und apathisch auf einem verdreckten Schlafsofa. Im selben Zimmer hausten drei von Flöhen und Würmern befallene Katzen. Die gesamte Wohnung war voll von gebrauchten Windeln, Katzenkot und verschimmelten Lebensmitteln.

Illertissen in Schwaben: Hier wurde das kleine Mädchen gefunden. (Foto: Foto: sueddeutsche.de)

Im Kinderbettchen stapelte sich bis zum Gitterrand Müll. "Überall in der Wohnung herrschte ein Geruch von Urin, Tierkot und Müll", sagt Bernt Münzenberg, der Direktor des Amtsgerichts Neu-Ulm. Wie erst jetzt bekannt wurde, haben die Behörden im März im schwäbischen Illertissen einem zehn Wochen alten Kleinkind im letzten Moment das Leben gerettet - und zwar durch Zufall, weil ein Nachbar in der Wohnung der völlig überforderten Eltern die drei verwahrlosten Katzen gesehen hatte.

Der Katzenfreund verständigte die Polizei - und als die Beamten wegen des Verdachts auf Tierquälerei das 30-Quadratmeter-Apartment betraten, stockte ihnen gleich in zweifacher Hinsicht der Atem: erstens wegen des Gestanks, zweitens wegen des vor sich hin siechenden Kindes, von dem niemand gewusst hatte.

"Die Männer waren fix und fertig", sagt Bernt Münzenberg. Sheila Selina, so heißt das Mädchen, wurde sofort vom Jugendamt in Obhut genommen und ins Krankenhaus gebracht.

Die Ärzte stellten eine lebensgefährliche Austrockung sowie einen "desolaten Versorgungs- und Ernährungszustand" fest, wie es Richter Münzenberg ausdrückt. "Die Reaktionen des Kindes lagen nicht im Normbereich." Inzwischen hat sich das Kind erholt, Pflegeeltern versorgen es.

Den vorbestraften und drogensüchtigen Eltern im Alter von 21 und 22 Jahren wird wegen Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht sowie wegen des Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz Mitte September vor dem Amtsgericht Neu-Ulm der Prozess gemacht.

Seit März hat das arbeitlose, unverheiratete Pärchen seine gemeinsame Tochter noch kein einziges Mal besucht. "Obwohl wir das zigfach angeboten haben", sagt Münzenberg. "Angesichts dieser Zustände fragt man sich schon, ob eine Zwangsuntersuchung von Babys solche Ausnahmefälle verhindern könnte", sagt der Amtsgerichtsdirektor.

Sheila Selina ist das vierte vernachlässigte oder misshandelte Kind, das in den vergangenen Wochen im Großraum Augsburg/Ulm Gerichte und Öffentlichkeit beschäftigt. In Bobingen lungerte ein Fünfjähriger tagelang unbeaufsichtigt auf der Straße herum, in Landsberg wurde eine Sechsjährige von ihrer Mutter geschlagen und gezwungen, ihr Erbrochenes aufzulecken.

In Ursberg wurde ein Mädchen von Geburt an fast acht Jahre lang versteckt und eingesperrt. Rudolf Winkler, Chefarzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Augsburger Krankenhaus Josefinum, erklärt diese aktuelle Häufung mit der Arbeit der Behörden: "Die Polizei und das Jugendamt werden besser."

Eine gleichzeitige Verrohung der Gesellschaft schließt Winkler nicht aus, er betont jedoch, dass es bei Kindstötung oder -misshandlung keine signifikante Steigerung gebe. Andererseits beobachtet er in seiner Klinik "eine Erhöhung der Fälle von Vernachlässigung".

Im Fall der inzwischen achtjährigen Anja, die ihr Leben lang in einem verdunkelten Zimmer eines Bauernhauses in Ursberg (Landkreis Günzburg) eingesperrt war, dauern die Ermittlungen an. Die Staatsanwaltschaft Memmingen wartet auf Gutachten zur Schuldfähigkeit der Mutter und zum medizinischen Zustand des Kindes. Beide Expertisen werden frühestens im Oktober erwartet.

Das stumme Mädchen

Zwei Monate nach Anjas Entdeckung tritt allmählich das gesamte Ausmaß der Tragödie zu Tage: Die Entwicklung des Mädchens ist um Jahre verzögert, offenbar hat die Achtjährige erst jetzt in der Therapie richtig laufen gelernt. Wie sehr ihre Intelligenz unter der lebenslangen Tortur gelitten hat, ist derzeit noch nicht absehbar. Der Günzburger Familienrichter Klaus Mörrath entzog der Mutter das Sorgerecht und ernannte eine Verwandte zum Vormund. Als er sich vor seiner Entscheidung mit Anja unterhalten wollte, war kein Gespräch möglich. ,,Sie hat meine Fragen sicherlich verstanden'', berichtet Mörrath, ,,aber Antworten habe ich keine erhalten.''

© SZ vom 14.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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