Kindesmissbrauch in Eschenau:Das zerrüttete Dorf

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Familien ziehen fort, ein Mahnmal wird beschmiert, in Reifen stecken Nägel: Vier Jahre, nachdem die Opfer der Kinderschänder von Eschenau an die Öffentlichkeit gingen, ist das Dorfleben zerstört.

Olaf Przybilla

Fritz Gotthardt packt gerade seine Sachen zusammen. In Eschenau ist er geboren, damals kam man noch im Dorf zur Welt. In Eschenau ist er groß geworden, und dort wollte er auch alt werden. Einmal im Leben ist er umgezogen, von der einen Straßenseite in Eschenau auf die andere.

Ende eines Idylls: Auch vier Jahre nach den Missbrauchsvorwürfen gegen zwei Eschenauer ziehen aus dem Dorf Familien weg. (Foto: ddp)

Er wollte nie weg aus dem Dorf, aus diesem Flecken zwischen Weinreben und den Hügeln des Steigerwalds, selbst im lieblichen Mainfranken kenne er kaum einen idyllischeren, sagt er. Nun aber, mit 60 Jahren, zieht er weg. "Ich habe daran geglaubt, dass die Wunden hier wieder verheilen", sagt er, "aber ehrlich gesagt wird es immer schlimmer." In einer Woche kommen die Möbelpacker.

Gotthardt war ein angesehener Mann in Eschenau, Ortssprecher war er für die CSU. Zurückgetreten ist er nach jenem Abend, als sich im Gemeindesaal ein großer Teil der Dorfbewohner versammelt hatte, um sich zu wehren gegen die Missbrauchsvorwürfe, die mehrere Frauen gegen zwei Männer des Dorfes erhoben hatten. Das war vor mehr als drei Jahren. Kurz zuvor war Heidi Marks nach mehr als 20 Jahren aus den USA in ihr Heimatdorf zurückgekehrt, eigentlich für einen Kurzurlaub. Als sie von Missbrauchsgerüchten hörte, erstattete sie Anzeige. Auch sie war als Mädchen in Eschenau mehrmals missbraucht worden.

Mehrere Frauen erstatteten daraufhin ebenfalls Anzeige wegen Missbrauchs, und ein sehr angesehener Mann des Dorfes nahm sich im Frühjahr 2007 das Leben. Ein zweiter wurde sechs Monate später zu viereinhalb Jahren Haft wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt.

Gotthardt hat damals Stellung bezogen gegen diejenigen, die ihn zum Ortssprecher gewählt hatten. Dass sie ihm das im Dorf übelnehmen würden, damit musste er rechnen. Dass aber selbst nach der Verurteilung jenes Mannes, der Kinder in Eschenau missbraucht hatte, niemand aus dem Dorf gewillt war, ihm die Hand zu reichen, das hat ihn erschüttert. Gotthardt ist beschimpft worden, aber das ist nicht das Problem, sagt er.

Das Problem ist die Isolation im Dorf, nicht mehr angeschaut zu werden, seit drei Jahren. Und das Problem ist, sagt Gotthardt, "dass keiner kommt und sagt: Fritz, ich habe Mist geredet." Im April 2010, mehr als zwei Jahre nach dem Urteil, steckten zwei Nägel in zwei verschiedenen Reifen des Autos seiner Frau. Zuvor wurde der Gasthof von Eschenau, in dem eines der Opfer wohnt, mit Eiern beworfen. Und erst vor vier Monaten wurde ein Mahnmal, mit dem einer aus dem Dorf an die misshandelten Kinder von Eschenau erinnern wollte, mit Farbe überpinselt. "Spätestens seitdem weiß ich: Es geht einfach nicht mehr", sagt Gotthardt.

"Mensch, der Fritz", sagt Stefan Paulus, der Bürgermeister von Knetzgau im Landkreis Haßberge. Eschenau, knapp 200 Einwohner, ist ein Ortsteil von Knetzgau, und als Paulus dort im Jahr 2008 zum Rathauschef gewählt worden ist, da erbte er die Verwerfungen von Eschenau mit. Paulus, 43, hat dann mit den Familien aus dem Dorf geredet. Gesagt hat er ihnen, dass sie es nun selbst in der Hand hätten, dass wieder Frieden ist im Dorf. Genutzt hat es wenig. "Ich bedauere es, dass Menschen noch immer wegziehen müssen", sagt er. Zumal es immer mehr werden: Die Mutter von Heidi Marks ist weggezogen, sie hat es nicht mehr ausgehalten. Ihr Schwager ist weggezogen. Und nun auch Gotthardt, "einer unserer engagiertesten Leute hier", sagt Paulus. Er starrt auf die Tischplatte, schüttelt den Kopf. "Was kann man noch tun?"

Robert Hauck, 52, will nicht wegziehen aus Eschenau. "Ich bin verwandt mit Familien, aus denen ein Täter stammt", sagt er. "Und ich bin verwandt mit Familien, aus denen ein Opfer stammt." Im Mai hat er auf einem Grundstück, das ihm gehört, einen kleinen Findling aufgestellt und eine Tafel angebracht daran.

In wenigen Sätzen ist nachzulesen, was passiert ist seit dem Mai 2007. Wie das Dorf den Frauen die Schuld am Tod des angesehenen Landwirts gegeben hat. Wie die Familien derer, die zur Polizei gegangen sind, "beschimpft, verachtet, bedroht", wie sie mit "Haus- und Hofverbot" belegt wurden. Wie über die Frauen bei der Gemeindeversammlung im ehemaligen evangelischen Pfarrhaus von Eschenau geredet wurde, "menschenverachtend", schreibt Hauck. Vier Wochen konnte man das lesen, direkt an der Stelle, wo in Eschenau der Panoramaweg zu den Hügeln des Steigerwalds beginnt. Wer jetzt vor dem Stein steht, kann an dessen Fuß noch den Namen des Unterzeichners erahnen, der Rest wurde mit silberner Farbe unleserlich gemacht.

Warum er den Stein aufgestellt habe, ist Hauck von Honoratioren gefragt worden, da doch nun drei Jahre vergangen sind seit dem Zerwürfnis. Hauck kann über die Frage nur lachen. "Nur weil nicht mehr berichtet wird aus Eschenau, glauben die Leute, dass alles wieder gut ist", sagt er. Wer aber in Eschenau lebe, müsse erleben, "das unser Dorfleben zerstört ist und unser Vereinsleben tot". Ein paar in Eschenau versuchten sich in einen heile Welt zu flüchten, aber wenn nur der falsche Traktor durchs Dorf fährt, dann werden sämtliche Hoftore geschlossen. "Nichts hat sich verändert in diesen drei Jahren", sagt Hauck.

Als Heidi Marks zurück war, in Fort Wayne im Bundesstaat Indiana, ging es ihr für einige Zeit gut. Sie kam mit dem Gefühl nach Hause, dafür gesorgt zu haben, dass der verurteilte Mann aus Eschenau zur Rechenschaft gezogen worden ist "und die Kinder des Dorfes nicht weiter in Gefahr sind". Das Gefühl aber dauerte nicht lange an, wenige Wochen nach der Rückkehr erlitt sie einen Zusammenbruch. "Meine ganze Kindheit kam wieder hoch", sagt Heidi Marks. Dieses Gefühl, ausgestoßen zu sein, das Gefühl möglichst weit flüchten zu müssen. Fragt man sie, wie es ihr momentan gehe, dann macht Heidi Marks eine lange Pause. Dann sagt sie: "Es ist schon okay." Ihre Verwandten sind inzwischen alle aus Eschenau weg. Dass immer noch Menschen aus dem Dorf ziehen müssen, kann sie kaum fassen. "Man könnte irre werden über dem Gedanken", sagt sie.

Im August ist bei Rowohlt ein Roman erschienen, "Schandfleck" heißt er. Die Berliner Autorin, Mila Wolf, macht kein Geheimnis daraus, dass es die Vorfälle in Eschenau sind, die sie darin verarbeitet. Im Buch kommt eine Frau namens Christine Yves aus den USA ins Dorf Reubach zurück. Es endet damit, dass die Figur ein Flugzeug besteigt und von der Maschine aus auf einen kleiner werdenden Flickenteppich schaut: "Lauter kleine Reubachs, dachte Christine."

© SZ vom 25.09.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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