Eines Tages würde sie ihm gern gegenüber sitzen. Bei einem Gespräch in einem Café vielleicht. Aufmerksam würde sie sein Gesicht studieren, seine Augen, seine Nase, seinen Mund und würde Ähnlichkeiten zu ihrem eigenen feststellen. Sie würde ihn nach seinen Hobbys fragen - möglicherweise hätten sie dieselben Interessen. In ihrem Kopf gibt es ein Bild von ihm: Er ist 1,70 Meter groß, hat braune Haare, braune Augen und ist 40 bis 50 Jahre alt. Er sähe ihr sehr ähnlich.
Doch für die 18-Jährige, die in einer Stadt in Bayern lebt, ist ihr biologischer Vater lediglich ein Gedankenspiel. Lena, wie sie sich der Anonymität wegen nennt, ist eine von etwa 100 000 Kindern, die seit den Siebzigerjahren in Deutschland durch anonyme Samenspenden entstanden sind. Nun ist sie auf der Suche nach ihrem Erzeuger, einem Teil ihrer Identität.
Im vergangenen Jahr klagte eine 21-Jährige gegen Thomas Katzorke, den Leiter des Essener Zentrums für Reproduktionsmedizin, um den Namen ihres Erzeugers zu erfahren. Im Februar erhielt sie in einem aufsehenerregenden Prozess vor dem Oberlandesgericht (OLG) Hamm recht. Die Begründung: Das Recht auf die Kenntnis der eigenen Abstammung gehöre zu den grundlegenden Faktoren, die dem Menschen das Verständnis und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit ermöglichen.
Auch Lena ist entschlossen, Katzorke zu verklagen, wenn er ihr die Daten des Spenders nicht aushändigt. Unterstützung holt sie sich beim Verein Spenderkinder.
Keiner ahnte etwas
Lena ist klein, zierlich und sieht in ihrem olivgrünen Sommerkleid noch sehr jung aus. Doch von ihrer Geschichte spricht sie selbstbewusst, ohne Zögern und mit einem offenen Lächeln. So auch von dem Moment, als ihre Mutter Lena im Alter von elf Jahren verriet, dass sie durch eine anonyme Samenspende entstanden sei. "Als ich klein war, hat sie oft gesagt, sie muss irgendein Geheimnis erzählen. Aber es konnte ja keiner ahnen, dass so etwas dabei herauskommt", sagt Lena.
Ihren Verwandten sollte sie davon nichts sagen. Ihre Eltern waren zu dem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren geschieden. "Das war ein ziemlicher Schock", sagt Lena. Doch schien ihr dies zu erklären, weshalb ihr Vater nach der Scheidung den Kontakt abgebrochen hatte und keinen Unterhalt mehr zahlen wollte. "Er kam nicht damit zurecht, dass ich nicht sein leibliches Kind bin", vermutet Lena.
Auch ihre Mutter distanzierte sich nach der Offenbarung von ihrem Kind. "Sie hat öfter mal gesagt, dass sie lieber doch kein Kind gehabt hätte", erklärt Lena. Es sei wohl kein echter Kinderwunsch gewesen, sondern vielmehr gesellschaftlicher Druck, der sie zu der künstlichen Befruchtung getrieben habe. "Alle ihre Freunde hatten schon Kinder, da dachten sie, sie müssten auch welche haben. Vielleicht hätten sie bewusster über diese Entscheidung nachdenken sollen."
Bis sie 18 Jahre alt war, schwieg Lena. Dann schrieb die Auszubildende an Katzorke, der ihr erst ein halbes Jahr später antwortete. In seinem Schreiben befand sich eine Anlage des Spenders: Dieser schrieb, er wolle keinen Kontakt, um seinen eigenen Familienfrieden zu bewahren. "Aber ich akzeptiere das nicht. Er kann sich ja mal mit mir treffen, mit mir reden und mir seine E-Mail-Adresse für Nachfragen hinterlassen. Er muss es ja nicht seiner Familie erzählen", sagt Lena. Im Vergleich zu Adoptivkindern ärgert sie die unklare Gesetzeslage: "Es kann doch nicht sein, dass sie das Recht haben, mit 16 Jahren in ihre Akten zu gucken, und wir dürfen nicht erfahren, von wem wir abstammen."
Dass das Problem der Identitätsfindung von Spenderkindern mit der Situation von Adoptivkindern durchaus zu vergleichen ist, weiß die hessische Familientherapeutin Petra Thorn. Seit mehr als 20 Jahren berät sie Eltern, deren Kinder durch Samenspende gezeugt wurden: "Wir wissen aus der Forschung, dass die Problematik für Kinder von Samenspendern sehr ähnlich ist. Viele Kinder und Jugendliche bezeichnen die ungewisse Herkunft als Leerstelle in ihrem Leben und gehen auf die Suche."
Ein regelrechter Identitätsbruch
Zwar gebe es Menschen, die mit dieser Leerstelle gut leben könnten, bei anderen komme es zu einem regelrechten "Identitätsbruch". Wenn sie erst spät davon erführen, werde das lange Schweigen der Eltern häufig als Vertrauensbruch empfunden. "Wir raten daher, die Kinder frühzeitig aufzuklären und in der Familie offen damit umzugehen", sagt Thorn.
Der ideale Zeitpunkt liege im Kindergartenalter, wenn die Kinder noch nicht über die menschliche Fortpflanzung aufgeklärt seien. "Das Schlimmste ist, wenn den Kindern signalisiert wird, bei ihrer Herkunft handle es sich um ein mit Angst und Scham besetztes Thema." Auch Thorn spricht sich für ein Auskunftsrecht aus.
Lena betont, sie sei nicht generell gegen Samenspenden. "Aber es muss gesetzlich geregelt sein, dass man seinen Spender kennenlernen kann." Vielen Spenderkindern wäre ein Lebenslauf mit einem Bild schon genug. Dass es keine Spenden mehr geben könnte, wenn die Anonymisierung des Verfahrens aufgehoben würde, ist für sie kein Argument. "In den Niederlanden und in England ist das so geregelt, dass die Spender ihre Namen in öffentlichen Registern eintragen müssen. Trotzdem gibt es genügend Spender." Zudem sei dort klar geregelt, dass Spenderkinder keine Unterhalts- oder Erbansprüche stellen können.
Lena rechnet damit, dass sich das Gerichtsverfahren in die Länge ziehen wird. Doch sie gibt die Hoffnung nicht auf, ihrem Erzeuger eines Tages gegenüber sitzen zu können. "Bei vielen Spenderkindern sagen die Ärzte, dass es die Daten nicht mehr gibt. Da habe ich schon großes Glück." Selbst wenn sie ihn nicht finden sollte: Umsonst war ihr Kampf ihrer Ansicht nach nicht: "Ich möchte anderen Spenderkindern Mut machen, sich Hilfe zu holen und nach ihrem Erzeuger zu suchen. Uns geht es hauptsächlich darum, dass sich in der Zukunft gesetzlich was verändert."