Gipfelstürmer:Piercing und Lederhose

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Im Garmisch treffen derzeit Welten aufeinander: Die einen demonstrieren, die anderen prozessieren sogar - wer skurriler ist, bleibt offen

Von Lisa Schnell

Am Donnerstag knallten Schüsse durch das Garmischer Tal. All die tausend Polizisten, die sonst eher untätig in der Sonne stehen, müssen zusammengezuckt sein: Hatten sie was verpasst? Die Schüsse kamen nicht aus dem so verschrienen Camp der G-7-Gegner, sondern aus altehrwürdigen Kanonen der Garmischer. Auch sie gingen demonstrieren, sogar prozessieren. Sie feierten nicht das Ende des Kapitalismus, sondern Fronleichnam.

Und so mischten sich zwei ungewöhnliche Demonstrationszüge in den Garmischer Straßen. Auf der einen Seite die G-7-Gegner. Sie erhöhten die Rasta- und Piercingdichte in Garmisch ums Hundertfache. Der eingesessene Garmischer kann sie nur als Gestalten beschreiben: offensichtlich mit Absicht unfrisierte Haarschöpfe, manche in unnatürlichen Farben von pink bis blau, Kleidungsstücke, die der Garmischer nicht mal als Decke benutzen würde, und ungepflegte Fingernägel haben sie auch. Auf der anderen Seite der Fronleichnam-Garmischer. Der Gamsbart wippt am Hut, die kurze Lederhosen gibt den Blick frei auf die besten Sonntagswadlstrümpfe, am Hosenbund das Hirschhornmesser. "Warum darf der und ich nicht?", wird sich wohl der ein oder andere G-7-Aktivist gefragt haben, wenn die Garmischer in ihrer Traditionsbewaffnung an ihm vorbeiprozessiert sind. Nachdem der Garmischer somit den Leib genügend geehrt hat, wandte er sich seinem Durst zu. Auf den Frisurenschock ein Bier, das hilft.

Mittags rum machte die Bedienung den ersten Strich aufs Bierfilzl, wer Stunden später wieder vorbeifuhr, sah noch die gleichen Nasen dort sitzen, nur etwas röter waren sie, und auf dem Bierfilzl schon 15 Striche. Nichts konnte sie aufhalten in ihrer Traditionspflege, nicht einmal die Natur. Mit der Hand mutig das Bierglas umklammert, gaben sie ihr Haupt stoisch der runterbrennenden Sonne preis und knurrten nur: "Wir sind stärker als die Sonne." Und als die sich dann geschlagen gab und hinter den mächtigen Bergen verschwand, entdeckte auch der eine oder andere Garmischer seine revolutionäre Ader. Der Polizeibus, der des Nachts verkehrt herum in die Einbahnstraße einfuhr, wurde zumindest ausgiebigst beschimpft - besser hätten es die Unfrisierten auch nicht vermocht.

© SZ vom 06.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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