Gewalt gegen Betreuer:Tatort Wohngruppe

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Pfleger und Betreuer in Behinderteneinrichtungen sind alltäglicher Gewalt ausgesetzt. (Foto: SZ-Grafik)

Schlagen, kratzen, spucken: In Wohngruppen attackieren Menschen mit Behinderung immer wieder Pfleger und andere Betreute. Viele Heimbetreiber schweigen - sie wollen vermeiden, dass die Gewalt publik wird.

Von Dietrich Mittler

In weniger als drei Minuten ist die Urteilsverkündung vor dem Arbeitsgericht in Neu-Ulm vorbei, und für Lucia Donnici bricht eine Welt zusammen. "Noch nie in meinem Leben wurde ich so abgewatscht", sagt sie, "mit diesem Urteil heute wird das falsche Zeichen gesetzt." Doch die Richter hatten der zierlichen Heilerziehungspflegerin unmissverständlich erklärt, dass es in einem Arbeitsprozess nicht darum gehe, Zeichen zu setzen.

Geklagt hatte Donnici gegen ihre Umversetzung innerhalb der katholischen Behinderten-Einrichtung im schwäbischen Allmannshofen, die zum renommierten Dominikus-Ringeisen-Werk gehört. Doch zur Sprache bringen wollte sie etwas ganz anderes: Auf ihrer stationären Wohngruppe hatte ein hochaggressiver behinderter junger Mann wiederholt hilflose Mitbewohner angegriffen, ein anderer Bewohner war ebenfalls mehrmals gegen sich selbst und andere gewalttätig geworden.

Doch die Leitung habe nicht auf ihre Warnung reagiert - und sie stattdessen hausintern umgesetzt. Weg von ihrer Wohngruppe. Das tut auch deshalb weh, weil die neuen Arbeitszeiten es nicht mehr zulassen, dass sie ihr Kind aus der Betreuung abholen kann. Auch gehen Donnici willkommene Schichtzuschläge und freie Tage verloren.

Ständige Angst

"Ich hatte Angst um Mitarbeiter und Bewohner", sagt die 44-Jährige vor dem Gerichtsgebäude. Drei ihrer früheren Mitarbeiterinnen, die zur ihrer Unterstützung nach Neu-Ulm gekommen sind, nicken. "Wir sind von der Heimleitung da nicht ernst genommen worden", sagt eine von ihnen. Keine der drei Frauen ist noch auf der fraglichen Wohngruppe im Kloster Holzen tätig. Eine von ihnen ist nun in Altersteilzeit, eine andere hat einen neuen Arbeitsbereich gefunden, nachdem ihr Vertrag nicht verlängert wurde.

Beide Frauen können nun ohne Angst um ihren Lebensunterhalt Auskunft geben: "Wir hatten seit 2009 einen sehr schwierigen Bewohner, extrem fremdaggressiv, permanent mussten wir Schwächere vor ihm schützen, zum Teil auch isolieren", teilen sie mit. Der hünenhafte geistig behinderte Mann sei aber nicht nur eine Gefahr für seine Mitbewohner gewesen: "Auch wir wurden oft angegriffen, jedoch konnten wir uns besser wehren."

Geschlagen, gezwickt, geritzt

Doch wirklich schützen konnten sich auch die Mitarbeiterinnen nicht: "Täglich wurden wir geschlagen, gekratzt, gezwickt", sagen sie. Lucia Donnicis Anwalt weist in seinem Schriftsatz auf einen weiteren gravierenden Fall hin: "Die Klägerin (Lucia Donnici - Anm. der Red.) wurde Anfang April von einem Klienten mit einem Messer geritzt und trägt hiervon nun zwei circa zehn Zentimeter lange Narben davon."

"Solche Übergriffe sind kein Einzelfall, und sie sind auch nicht auf eine Einrichtung begrenzt", sagt Ernst Engelke, der bis 2007 als Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Würzburg tätig war. Engelke berät und schult Ärzte, Pflege- und Betreuungskräfte, die mit solchen Gewalterfahrungen umgehen müssen. "Man muss sich doch mal deutlich machen, was diese betreuenden Menschen aushalten müssen - auch rein körperlich. Beißen, kratzen, treten, spucken - das ist an der Tagesordnung", sagt er. Statistische Zahlen aus Bayern gebe es darüber keine, bedauert er.

"Dazu werden hier keine Daten erhoben", bestätigt ein Sprecher des Sozialministeriums. Dass Führungskräfte in Heimen mit solchen Gewaltkonfrontationen sehr unterschiedlich umgehen, kann Engelke zumindest nachvollziehen: "Das ist eine hochbrisante Situation. Man möchte ja nicht, dass etwas von den Vorfällen an die Öffentlichkeit kommt." Er wisse aber von Einrichtungen, die die Problematik sehr offensiv aufgreifen.

Hans-Peter Volz, der ärztliche Direktor des Krankenhauses für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Schloss Werneck, hat bereits vor Jahren begonnen, mit seinen Mitarbeitern Strategien zu erarbeiten, wie sich brisante Situationen so früh wie möglich entschärfen lassen. "Wir haben die Zahl der Patienten, die auf der Station sein dürfen, etwas reduziert", sagt er, "und wir haben unsere Mitarbeiter darin trainiert, wie sie mit hochaggressiven Patienten umgehen können. Auch wurde die Personalstärke - wo nötig - erhöht." Dies habe tatsächlich zu einem Rückgang von Übergriffen geführt. Dabei müssten die Führungskräfte jedoch ständig nachjustieren, damit das Trainierte weiterhin umgesetzt werde.

Die früheren Kolleginnen, die Lucia Donnici vor dem Neu-Ulmer Arbeitsgericht erwartet haben, sagen jedoch: "Unsere Heimleitung ließ sich nicht blicken, wir wurden komplett allein gelassen." Donnici, so beschreibt es ihr Anwalt, wandte sich schließlich an die Mutter einer schwerst behinderten Frau, die von dem gewalttätigen Mitbewohner "mehrmals tätlich angegriffen" und mit Schlägen traktiert worden war. Diese ging daraufhin zur Heimleitung und setzte - unterstützt von ihrer Anwältin - durch, dass Lucia Donnici als verantwortliche Gruppenleiterin hinzugezogen wurde.

Zweifelhafte "Gesundheitsfürsorge"

Donnici habe die Vorfälle bestätigt, und daraufhin habe das Dominikus-Ringeisen-Werk die Verlegung des aggressiven Betreuten zugesichert. Gut eine Woche darauf wurde Lucia Donnici mitgeteilt, dass sie ihre Gruppe zu verlassen und künftig in einer benachbarten Fördereinrichtung ihren Dienst anzutreten habe - aus Gründen der "Gesundheitsfürsorge". Doch als ihr Anwalt nachweisen konnte, dass sie kaum krank war, wurde von der Anwaltskanzlei der Einrichtung ein neuer Weg eingeschlagen: Donnicis Gruppe sei "ein ständiger Unruheherd für innerbetriebliche Querelen und Störungen im Betriebsablauf" gewesen. Ihr Anwalt indes verweist auf brillante Zwischenzeugnisse. "Ihren komplexen Verantwortungsbereich bewältigt Frau Donnici stets zu unserer vollsten Zufriedenheit", heißt es da.

Martin Burkhart, der Gesamtleiter der Dominikus-Ringeisen-Einrichtung "Augsburg Nord" in Kloster Holzen, geht im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung sehr konkret auf den Fall ein und erwähnt auch, dass die Polizei über die Vorfälle informiert worden sei, die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aber schließlich eingestellt habe. Seine schriftliche Stellungnahme fällt dann jedoch eher knapp aus: "Da es sich um ein laufendes Verfahren handelt, können wir zurzeit keine Stellungnahme in diesem Zusammenhang abgeben." Die Umversetzung von Lucia Donnici sei "aus Fürsorgegründen erfolgt". Das Arbeitsgericht habe hier im Sinne der Einrichtung entschieden.

Lucia Donnicis Kolleginnen haben erfahren, dass inzwischen sehr viel mehr getan werde, damit es auf ihrer früheren Station nicht mehr zu solchen Vorfällen kommt. Als Donnici vor dem Arbeitsgericht davon erfährt, lacht sie bitter und sagt: "Gut, durch meinen Fall ist es besser geworden, aber ich zahle dafür einen hohen Preis."

© SZ vom 20.12.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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