Eisbärenbaby in Nürnberg:Die Leiden des Dag Encke

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"Es ist pervers, auf welche Weise man plötzlich bekannt werden kann": Wie der Nürnberger Zoochef bereits zum zweiten Mal höchst unfreiwillig in die Schlagzeilen geriet.

Olaf Przybilla

Es gab diesen einen Augenblick im Nürnberger Eisbären-Schauspiel, der antiken Dramatikern vermutlich nicht übel gefallen hätte. Und zwar als Peripetie, als jener Wendepunkt also im dritten Akt, an dem die Tragödie plötzlich eine ganz andere Richtung nimmt. Zwei ganz unterschiedliche Interpretationsansätze gibt es seither: Die einen - und sie sind deutlich in der Mehrzahl - feiern den Umschlag als den Beginn eines wunderbaren neuen Knut-Festspiels.

Zoodirektor Dag Encke musste der Eisbärin Vera ihren Nachwuchs wegnehmen. (Foto: Foto: Reuters)

In der Lesart von Zoodirektor Dag Encke aber nahm das Schauspiel in diesem einen Augenblick eine Wende ins Tragödienhafte. Am vergangenen Dienstag um die Mittagszeit musste der promovierte Biologe eine Entscheidung treffen, über die seither Fernsehsender in aller Welt jubeln. Encke trennte die Eisbärenmutter Vera, fünf Jahre alt, von ihrer gesunden Tochter, vier Wochen alt.

Sogar die Grünen ließen sich wenige Stunden nach der Trennung zu der These hinreißen, die Mutter habe ihr Baby verstoßen.Eine Interpretation, die der Nürnberger Chefzoologe nie verbreitet hatte. Die Bärin habe ihr Kleines wohl deshalb aus der Höhle geschleppt, erklärt Encke, weil sie sich im Angesicht des Rummels vor dem Gehege nicht mehr sicher war, ob sie ihr Junges durchbringen kann.

Bei der Suche nach einem sicheren Platz ließ die Bärin das Jungtier mehrmals aus größerer Höhe fallen. Wo hätte sie auch einen sicheren Platz finden sollen, in einem Zoogehege? Irgendwann wäre das vermutlich unfreiwillige Fallenlassen lebensgefährlich für das Jungtier geworden. Also habe man das Junge von der Mutter trennen müssen. Wäre er nicht Zoochef, sagt der 42-Jährige, "ich hätte losheulen können".

"Keine andere Wahl"

Seit dem Wendepunkt in dem Nürnberger Zoo-Drama ist viel zu erfahren über den Zustand des Jungtieres. Am gestrigen Freitag wurde das neueste Bulletin des Tierarztes live übertragen, von mehreren Fernsehsendern: Das noch namenlose Bärenbaby hat eine regelmäßige Verdauung, es nuckelt und wächst. Encke freut sich sichtlich über solche Nachrichten.

Erzählt denen, die es noch hören mögen, aber auch, wie es der Bärenmutter seit Dienstag erging: In den ersten 24Stunden nach der Wegnahme ihres Nachwuchses schrie die Bärin nahezu pausenlos. An den zwei folgenden Tagen wanderte sie, offenbar suchend, wie eine Getriebene vor ihrer Höhle auf und ab. Im Nachbargehege ruhte derweil die ebenfalls fünf Jahre alte Eisbärin Vilma in sich.

Sie hatte am Montag ihren Nachwuchs aufgefressen, vermutlich weil ihre beiden Babys zu schwach oder krank waren. In so einem Fall fressen Bärinnen ihre Jungtiere, um sich für einen zweiten Versuch zu stärken. Vilma geht es seither prächtig. Er sei guter Hoffnung, sagt der Direktor, dass Vilma ihren nächsten Wurf großziehen wird. Vera aber trauert noch, auch wenn es allmählich besser wird. "Schon grausam", sagt Encke.

Sind das nicht die Krokodilstränen eines Zoodirektors, der erst die Bedingungen schafft, über deren Folgen er hinterher Trauer trägt? Dass man das so sehen kann, weiß Encke. Schon sein Vater war Leiter eines Tierparks in Krefeld, weshalb der Bub selbst auf einem Zoogelände aufgewachsen ist.

Encke wollte ursprünglich Umweltpolitiker werden, deswegen das Biologiestudium, um hernach auf naturwissenschaftlichem Niveau mitreden zu können. Seit drei Jahren ist der dreifache Vater Zoochef in Nürnberg. Der Widerspruch, dass man bedrohte Tiere auf engstem Raum einsperren muss, um ihren Fortbestand zu sichern, sei nicht auflösbar, beteuert Encke. Er glaubte, alles dafür getan zu haben, um Bärenmutter Vera die Aufzucht ihres Nachwuchses ganz überlassen zu können. "Aber am Ende blieb uns keine andere Wahl, als das Junge wegzunehmen."

Von Tierschützern und von der Boulevardpresse wurde der Biologe attackiert. Allerdings nicht, weil er der Bärin das Junge entzogen hat - sondern weil er ihr den Nachwuchs nicht sofort weggenommen hatte, offenbar also nicht erkennen wollte, welche Vermarktungschancen so ein kleines, von Menschenhand aufgezogenes Wesen bietet. Encke erzählt, er habe diese Zeitungstexte nur überflogen, in denen er als ein Mann dargestellt wurde, der einen kleinen Bären schutzlos seiner Mutter überlässt. "Anders halten Sie so etwas nicht aus", sagt er.

Es ist bereits das zweite Mal seit seinem Amtsantritt in Nürnberg, dass der nachdenkliche Westfale in die Schlagzeilen geriet, unfreiwillig. Am 6.Oktober 2005 war Encke direkt vor dem Nürnberger Zoo in eine Situation geraten, die mit dem Wort Horror wohl nur unzulänglich beschrieben ist. Im Stadtwald erschoss ein Mann seine ehemalige Partnerin.

Encke kam zufällig hinzu und versuchte dem Täter in den Arm zu fallen. Dabei traf eine Kugel auch Encke, der notoperiert werden musste. Den Leberdurchschuss hat er relativ gut überwunden. Über den Vorfall reden will er gleichwohl nicht mehr. Vor allem die Medienprominenz habe ihm damals ganz schwer zu schaffen gemacht. "Es ist pervers", hatte Encke nach seiner Entlassung aus der Klinik erklärt, "auf welche Weise man plötzlich bekannt werden kann."

© SZ vom 12.01.2008/cag - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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