Atlas Soziale Ausgrenzung:"Reiches Bayern, arme Kinder"

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Finanzielle Not in Familien sei nicht immer gleich sichtbar, sagen Sozialexperten. Doch betroffenen jungen Menschen drohten oft Ausgrenzung in Schule und Freizeit - oder sogar gesundheitliche Folgen

Von Dietrich Mittler

Die Zahl der in Hartz-IV-Familien lebenden bayerischen Kinder unter 15 Jahren ist nach den aktuell vorliegenden Zahlen geringer als noch in zurückliegenden Erhebungen. Allein von Dezember 2017 bis Juni 2018 sank sie von 133 769 auf 118 517 Betroffene. Für Thomas Beyer, den Landesvorsitzenden der Arbeiterwohlfahrt in Bayern (AWO), bleibt es dennoch bei der Kernaussage: "In Bayern sind insgesamt mehr als 250 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren von Armut bedroht" - Armut, die oftmals nicht einmal gleich sichtbar werde. Und das auch deshalb nicht, weil häufig Elternteile aus Scham auf Hartz-IV-Leistungen verzichteten und stattdessen die Familie mit einer Reihe schlecht bezahlter Jobs über Wasser hielten. Beyer präsentierte am Freitag in München den neuen "Atlas Soziale Ausgrenzung in Bayern 2018". Sein Fazit: "Reiches Bayern - arme Kinder."

Sozialpädagogen an der Basis kennen sehr wohl das versteckte Gesicht der Armut. Martin Ernst, Caritas-Referatsleiter für Kindertagesstätten im niederbayerischen Straubing, ist einer von ihnen. "Natürlich erkennen wir Armut", sagte er. Oft könnten es sich arme Familien zum Beispiel nicht einmal leisten, ihrem Kind den Eigenanteil für ein ohnehin gesponsortes Essen in der Tagesstätte in die Hand zu drücken. Und da gehe es um nur einen Euro pro Tag. "Auch kommen bei Schulausflügen vermehrt Krankmeldungen von Kindern von sozial schwachen Familien", sagte Ernst. Probleme gebe es hier oft auch bei der Erstattung von Schulbuch-Rechnungen oder beim Kopiergeld - für die betroffenen Familien laut Ernst "ein schwieriges Thema".

Hart trifft es, wie es AWO-Chef Thomas Beyer formulierte, insbesondere alleinerziehende Eltern. Und da sind es wiederum meist die Mütter, die ihre Kinder alleine großziehen. Auf Haushalten von Alleinerziehenden laste "eine deutlich erhöhte Armutsgefährdung, und diese lag im Freistaat 2015 bei 36,7 Prozent", sagte Beyer. Seiner Ansicht nach sind Kinder aber nicht per se ein Armutsrisiko, auch wenn das so immer wieder in den Raum gestellt werde. "Das ist falsch", sagte Beyer. Er stützt seine These darauf, dass viele Paarfamilien - Beispiel zwei Erwachsene mit einem Kind - in Bayern "einem wesentlich niedrigeren Armutsrisiko" unterliegen als Alleinerziehende. Allerdings, so räumte der AWO-Chef ein, steigt auch in Paarfamilien die Armutsgefährdungsquote bei drei oder mehr Kindern.

Alexander Nöhring, der Geschäftsführer des "Zukunftsforum Familie" (ZFF) in Berlin, warnte, wie auch Beyer, im Münchner Presseclub eindringlich vor den Folgen, die Kindern und Jugendlichen drohen, wenn auf ihrem Zuhause ein ständiger finanzieller Druck lastet. Darstellen lasse sich das anhand von vier "Lebenslagendimensionen". Erstens die materielle: "Arme Kinder wohnen tendenziell schlechter, haben seltener ein eigenes Zimmer", sagte Nöhring. Auch ihre Teilhabe an Ausflügen, Freizeit- und Sportaktivitäten sei eingeschränkt. Und dann, was bereits in die gesundheitliche Dimension hineinführe: Arme Kinder könnten sich meist nur eingeschränkt gesund ernähren. Sie litten deshalb häufiger unter Übergewicht und seien seltener in einem Sportverein aktiv, was letztlich auch der psychischen Gesundheit schade.

Nicht weniger gravierend sei die soziale Dimension: "Armut führt dazu, dass Kinder und Jugendliche wenige Freunde einladen können oder ihren Geburtstag nicht feiern können", betonte Nöhring. In der Folge erführen sie weniger soziale Wertschätzung und entwickelten nicht selten ein geringes Selbstwertgefühl. Damit aber nicht genug. Die kulturelle Dimension einer prekären Kindheit könne gar ein ganzes Leben überschatten. "Arme Kinder und Jugendliche haben häufiger als andere problematische Bildungsbiografien", sagte der ZFF-Geschäftsführer. Sie hätten oft schlechtere Noten, verließen die Schule häufiger ohne Abschluss.

Aber nicht jedes Kind, das in einem armutsgefährdeten Haushalt aufwachse, sei gleichermaßen von diesen Risikofaktoren betroffen, sagte AWO-Chef Beyer. "Auch deren Eltern versuchen, ihren Kindern das Beste zukommen zu lassen und ihnen Chancen zu eröffnen." Doch nur zu oft gingen eine prekäre Kindheit und eine armutsbedrohte Jugend über in ein Erwachsenenleben voller finanzieller Sorgen. "Das ist dann wie ein Rucksack, den ich nicht mehr los werde", sagte Beyer. Doch diesen "Teufelskreis" gelte es zu durchbrechen.

© SZ vom 15.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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