Am Ende waren es mehr als elf Minuten, eine kleine Ewigkeit im Rennsport. So viel Vorsprung auf den Zweitplatzierten hatte Ewald Kluge 1938 mit seiner DKW ULD 250 auf dem Straßenkurs der Isle of Man herausgefahren. Dabei gelten bei der berüchtigten Tourist Trophy noch heute kleinste Fehler als todgefährlich: Seit ihrer Erstauflage 1907 trägt sie den Ruf, das schwierigste, das gefährlichste Motorradrennen der Welt zu sein.
Vor 75 Jahren war Ewald Kluge der erste Deutsche, dem in der Tourist Trophy ein Sieg gelang. In der Leichtgewichtsklasse demütigte er das riesige englische Starterfeld, das in den ersten 30 Jahren des Rennens Siege fest gebucht hatte. Erst 1937 war einem Italiener gelungen, an ihnen vorbei zu ziehen. Doch dessen Sieg fiel mit 37 Sekunden Vorsprung noch einigermaßen knapp aus. Dann kam Kluge, sein Lauf war nach drei Stunden, 21 Minuten und 56 Sekunden vorbei, sieben Runden über die Inselstraßen waren absolviert - bei orkanartigen Böen. Teuflisch hatte die kleine, leichte DKW (Spitzname: Das Kleine Wunder) dabei gelärmt. Es hieß damals voller Ehrfurcht, die Irische See hätte das schrille Kreischen des Zweitakters bis aufs Festland nach Liverpool getragen.
Eine andere Form von Physik
Elf Minuten. Das war nicht etwas besser, das war, als gelte für Kluge und seine DKW eine andere Form von Physik. 1938 war er der beste Motorradfahrer der Welt. 29 Jahre war der Mann aus Lausa bei Dresden alt, der als Wagenwäscher und Taxifahrer gearbeitet hatte, bis er mit 20 Jahren als Privatfahrer bei seinem ersten Motorradrennen gestartet war. 1934 nahm ihn die DKW-Werksmannschaft in ihre Reihen, erst als Monteur und Zuverlässigkeitsfahrer, zwei Jahre darauf gehörte er zur Renn-Mannschaft. 1938 trumpfte er auf: Am Ende der Saison hatte er 12 von 14 Rennen gewonnen, die beiden anderen als Zweiter beendet. Er war "Meister aller Meister", diesen Titel gab es damals tatsächlich, zudem Europameister, Deutscher Meister (allein das viermal in Folge) und Deutscher Bergmeister. 1938 startete Kluge als DKW-Botschafter sogar in Australien, 40 Tage war er dafür auf dem Schiff unterwegs. Er siegte selbstverständlich, sogar mit seiner 250er in der 350er-Klasse. Die Auto Union, zu der DKW gehörte, konnte das als vollen Erfolg verbuchen. Für Kluge geriet die Reise zu einer exotischen Episode, mehr nicht, denn Weltmeisterschaften gab es am Vorabend des Zweiten Weltkrieges noch nicht.
Sie bewunderten ihn damals. Ewald Kluge war der Panther, weil seine Haltung auf dem Motorrad so liegend-lauernd war, elegant und völlig unverkrampft. Das war für seinen hochpräzisen Fahrstil Voraussetzung: Kluge war kein Hasardeur, keiner, der die Maschinen, auf denen er fuhr, in Kurven presste, sie drückte und knechtete. Sie und er verschmolzen zu einer Einheit, zu etwas Gemeinsamem, das in einen stets schnellen, doch nie hektischen Rhythmus mündete. Sein Tempo war nie das Ergebnis rüder Knüppelei, sondern erwuchs aus seinem feinen Gespür für Strecke und Maschine und einem fein abgewogenen Schwingen. Wohl auch deswegen war er in seiner Laufbahn nie schwer gestürzt - bis es ihn 1953, beim Eifelrennen auf dem Nüburgring, dann doch erwischte. Er lag an zweiter Stelle, als ihm seine DKW wegrutschte. Der Sturz zerschmetterte ihm den Oberschenkel. Sein Bein konnten sie im Krankenhaus retten, behielten ihn jedoch beinahe ein Jahr da. Nach Krieg, Gefangenschaft und Neuanfang war Kluges großer, stiller Traum, die legendäre Tourist Trophy ein zweites Mal zu gewinnen, nun endgültig eine Hoffnung geblieben.
Nachbau aus dem Erzgebirge
Zum 75. Jubiläum hatte die Traditionsabteilung von Audi eine DKW Super Sport 250 auf die Insel geschickt, einem Modell, das damals in einer Kleinserie als Sportvariante für private Motorrad-Rennfahrer gebaut wurde. Wie die Werksmaschine optimierte eine Ladepumpe die Füllung des Zweitakters, doch fiel die Technik etwas einfacher aus. Überlebt hat kaum ein Exemplar, komplett und uneingeschränkt einsatzbereit ist keines. Deswegen wagte ein Fan aus dem Erzgebirge einen Nachbau: Aus dem Nichts baute Uwe Pfüller, 52, über viele Jahre eine uneingeschränkt fahrfähige Kopie des Rennmotorrades auf. Von den Rädern über Motor und Getriebe bis hin zum Tank baute er die DKW nach. Mehr als sieben Jahre Arbeit stecken in seiner Kreation, 2008 lief sie das erste Mal - und war dabei nicht nur so schnell, sondern auch so infernalisch laut wie einst. Sein Ziel hat Pfüller erreicht: "Ich wollte eine Super Sport 250 haben, die durchhält", sagt er, "eine, die man richtig fahren kann." Zur Classic Tourist Trophy 2013 startete der frühere Grand-Prix-Rennfahrer Ralf Waldmann, 47, auf Pfüllers Kopie der DKW Super Sport 250. "Die Jungs, die damals fuhren: Das waren schon Helden", sagt der bekennende Technik-Nostalgiker.
Kluge allerdings, der Sieger von 1938, sah sich nie als Held. Er blieb betont bescheiden - und seiner Marke DKW so treu wie seinen Fans. In den 1950er-Jahren, nachdem er der neuen Auto Union nach Ingolstadt gefolgt war, kehrte er regelmäßig zu Rennen in seine sächsische Heimat zurück. Das haben sie ihm nicht vergessen: Noch heute gibt es dort einen Ewald-Kluge-Fanclub. Dieses Jahr, zu seinem 75-jährigen Tourist-Trophy-Jubiläum, feierten rund 4000 Zuschauer bei einem Treffen ihr Idol. Und seine elf Minuten Vorsprung.