Eisenbahn:Spielerische Sicherheit

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Im Labor der Möglichkeiten: An der Technischen Universität Dresden üben sich Verkehrsingenieure im Maßstab 1:87 im Konfliktmanagement, um neue Bahnbetriebssysteme zu testen.

Klaus C. Koch

Ein Regionalzug und ein ICE warten am Bahnhof Waldhof auf grünes Licht. Auf einem Zettel steht eine Gleisnummer; ansonsten kein Baum, kein Strauch, kein Modellhäuschen. In den Kellern der Verkehrswissenschaftlichen Fakultät Friedrich List herrscht Nüchternheit. Weder Papphügel noch Windmühle - stattdessen Gleise, Weichen und Streckensignale, wohin das Auge auch reicht. Und jede Menge Konfliktpotential.

Nicht der Idylle im Zwergenformat gilt die Aufmerksamkeit im Eisenbahnbetriebslabor, sondern neu entwickelten Fahrplänen und Stellwerkssystemen, die hier an der Technischen Hochschule in Dresden getestet werden, bevor sie auf dem Schienennetz der Deutschen Bahn zum Einsatz kommen. Und der Modellbahn-Maßstab 1:87, H0 genannt, leistet dabei wertvolle Dienste.

Fahrdienstleiter oder Laborchef?

Thomas Ginzel darf wählen, ob er sich lieber als Fahrdienstleiter oder als Laborchef bezeichnet. Unter seiner Regie wird mit mehr als 100 Zügen, 85 Lokomotiven und 465 Waggons auf einem 1300 Meter langen Streckennetz der Rangierbetrieb, das Zusammenspiel zweier Loks in Doppeltraktion oder die Koordination auf Hochgeschwindigkeitsstrecken geprobt.

Monitore und Technik, mit denen der tatsächliche Zugverkehr auf dem 34.000 Kilometer langen Schienennetz in Deutschland überwacht wird, seien im verkleinerten Maßstab wie auch in der Realität grundsätzlich dieselben.

In Dresden wird an Bahnhöfen gehalten, die Neustadt, Adorf oder Zellwald heißen. Studenten dürfen schon im Grundstudium an Hebeln hantieren; auch an älteren mechanischen Stellwerken, Marke Einheit, wie sie auf Nebenstrecken noch immer zu finden sind.

Störungen, Verspätungen und ihre Folgen, auch der ein oder andere Unfall werden in Echtzeit produziert, um Risiken aufzuzeigen. Der Ernstfall als Kinderspiel? - "In der Realität", sagt Matthias Bär, Dozent am Institut für Bahnsysteme und Öffentlichen Verkehr, "ließe sich manches, weil mit Folgen verbunden, nur schwerlich ausprobieren."

Tatsächlich arbeiten Signaltechnik und Stellwerke im Modelllabor so dem wahren Leben getreu, dass sowohl die Bahn AG als auch die Hersteller von Betriebssystemen ihre Mitarbeiter nach Dresden schicken, "damit die mal aus erster Hand mitbekommen, wie sich ganz einfache Störungen aufs Gleisnetz auswirken", so Bär. Besonderer Clou ist eine Miniaturkamera, die in den Steuerwagen eines Doppelstockzuges eingebaut wurde, um die Fahrt aus der H0-Perspektive auf einen Monitor zu übertragen.

Besseres Zugmanagment heißt auch: Geld gespart

Ideale Voraussetzungen auch für die Deutsche Bahn, um ein Programm zu testen, das zukünftig helfen soll, Zugverspätungen aufzufangen und sogenannte Anschlusskonflikte zu lösen.

Ein Dispositions- und Konfliktmanagement, kurz DisKon, soll dann in den Betriebszentralen die Beantwortung der Frage erleichtern, ob und wie wartende Züge umgeleitet werden sollen, wenn irgendwo ein Baum auf die Gleise gestürzt ist oder ein Unfall die Trasse blockiert.

Bislang entschied etwa in der Netzleitzentrale in Frankfurt ein Dutzend Mitarbeiter sozusagen von Hand über die einzuschlagende Strategie; künftig läuft das Programm im Hintergrund mit, das Ausweichstrecken empfiehlt und bereits über 100 Kilometer und 30 Minuten im Voraus erkennt, ob weitere Überschneidungen oder Engpässe zu erwarten sind. Anhand von Algorithmen, die Informatiker der Universität Göttingen entwarfen, unterbreitet das System dann fortlaufend Vorschläge, um den Flaschenhals zu vermeiden.

Projektleiter Harald Börner durfte bereits über einige Monate hinweg in Dresden Eisenbahn spielen: "Was bringt es, wenn wir einen ICE mit Tempo 300 auf den nächsten Bahnhof zufahren lassen, er dann aber dort vor einem auf Halt stehenden Signal warten muss?"

Fährt er langsamer, verbraucht er auch weniger Energie. Angesichts von 39.000 Zügen, die pro Tag in Deutschland unterwegs sind, wird allein durch diese Harmonisierung mit Einsparungen im zweistelligen Millionenbereich gerechnet.

Modellbahnen, auf denen der Bahnbetrieb simuliert wird, um Studenten und Ingenieuren den Weg zu weisen, gibt es auch an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen, der TU Darmstadt und der ETH Zürich.

In Aachen sind es zwei Anlagen, von denen die erste in Spurweite 0 zwischen 1960 und 1962 im Keller der Fakultät der Bauingenieure entstand. Einem Schienenbus mit Trieb- und Steuerwagen folgten zwei Triebzüge und drei Dieselloks, die zwischen M-Dorf und E-Hausen verkehren. Vier mechanische, noch mit Muskelkraft zu bedienende Stellwerke älterer Bauart, zwei elektromechanische und ein Relaisstellwerk stehen zur Verfügung. 1992 wurde eine H0-Anlage mit einem elektronischen Stellwerk, fünf Hauptgleisen und einem Hauptbahnhof kombiniert. Im September 2006 wurde das Eisenbahn-Betriebsfeld der TU Darmstadt mit 13 Bahnhöfen, 90 Meter Gleis und 260 Weichen fertiggestellt.

Die neue Technik versteht nur, wer die alte kennt

Daniel Hürlimann vom Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme der ETH Zürich hält die Modellbahn auch im Zeitalter zunehmend perfekterer Computersimulation für eine gelungene Form der Visualisierung rechnergesteuerter Arbeitsvorgänge. "Das ist besser, als nur noch einen Strich zu sehen, der sich von Grau nach Rot verfärbt." Und Auszubildende der Schweizer Bahn SBB, der das Bahnlabor der ETH zur Hälfte gehört, kommen gerne, um zu helfen, wenn eine Weiche klemmt.

Harald Börner liegen Nostalgie und Bahnromantik fern. Aber: "Man versteht die neue Technik nur, wenn man die alte begriffen hat." Am besten gefällt ihm, dass sich im Zweifel sämtliche Züge anhalten und alle Uhren auf Stopp stellen lassen, um eine Situation beurteilen zu können und dann per Knopfdruck weiterzufahren. Im realen Bahnbetrieb wäre das nicht möglich.

© SZ vom 3.11.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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