Vom Kind zum Erwachsenen:Die Moral der Schokodiebe

Ist schon im Sandkasten-Alter vorbestimmt, was aus einem Kind wird? Münchner Forscher haben Kindern 20 Jahre lang beim Erwachsenwerden zugeschaut und jetzt die Ergebnisse ihrer "Logik"-Studie vorgestellt.

Susanne Schäfer

Eltern malen sich die Zukunft ihrer Kinder gern aus. Wenn der Kleine schon im Kindergarten die ersten Buchstaben kritzelt, träumen sie von seiner Karriere in Harvard.

Was wird aus den Kindern?

Aus wem wird ein Genie, ein Verbrecher, ein Politiker? Und warum?

(Foto: Foto: dpa)

Umgekehrt schrauben die Mütter und Väter die Erwartungen oft herunter, wenn ihre weniger begabten Sprösslinge in der Schule zu Problemkindern abgestempelt werden.

Nur - ist wirklich schon im Sandkasten-Alter vorbestimmt, was aus einem Kind wird? Oder moderiert der nasebohrende Träumer später einmal Talkshows, und die Hausaufgaben-Abschreiberin bekommt den Nobelpreis?

Diese Schicksalsfragen stellten sich Anfang der achtziger Jahre Wissenschaftler des damaligen Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München und starteten eine groß angelegte Studie. Zwanzig Jahre lang beobachteten sie Kinder, die anfangs drei bis vier Jahre alt waren und inzwischen junge Erwachsene sind.

Dreimal im Jahr trafen die Forscher ihre Versuchspersonen, ließen sie rechnen, Geschichten nacherzählen und rückwärts über den Schwebebalken balancieren. Sie fragten Eltern und Erzieher, welche Kinder andere piesacken und welche so schüchtern sind, dass sie am liebsten alleine spielen.

Einige Forscher konzentrierten sich dabei auf die Intelligenz der Kinder, andere auf deren Temperament oder die motorischen Fähigkeiten. Vergangene Woche präsentierten die Psychologen die Ergebnisse der "Logik"-Studie in München, die Abkürzung steht für "Longitudinalstudie zur Genese individueller Kompetenzen".

"Mit vier bis sechs Jahren ist noch vieles offen"

Zum Teil scheint die Persönlichkeit tatsächlich schon im Kind angelegt zu sein. "Im Alter von vier bis sechs Jahren ist noch vieles offen", sagt Wolfgang Schneider, Leiter der Studie. "Aber von da an sind viele Bereiche der Persönlichkeit bereits weit gehend festgelegt."

Schüchterne Kinder wurden zum Beispiel von ihren Eltern auch zwanzig Jahre später noch als schüchterne Erwachsene eingeschätzt. Und die Kinder, die mit vier Jahren intelligenter waren als Gleichaltrige, schnitten auch als Volljährige im Intelligenztest besser ab. Die weniger schlauen Kinder zählten auch 20 Jahre später noch nicht zu den Überfliegern.

Die Forscher wissen aber selbst nicht genau, wie sie ihre Ergebnisse interpretieren sollen. Dass die Schlaueren immer die Schlaueren blieben, heißt nicht, dass Intelligenz unveränderbar ist, wie der Psychologe Schneider selbst sagt. Es bedeute nicht, dass ein Mensch sich nur so entwickeln kann, wie die beobachteten Personen sich entwickelt haben.

Die Studie zeigte, dass die weniger intelligenten Personen oft aus niedrigen sozialen Schichten kamen - möglicherweise wurden sie einfach weniger gefördert als die Kinder aus höheren Schichten und schlossen deshalb nicht auf.

Schneider hält diese Interpretation für möglich. Der Psychologe von der Universität Würzburg sagt selbst: "Intelligenz ist sicherlich zu einem großen Teil genetisch bedingt, lässt sich jedoch auch gezielt fördern." Er verweist auf Studien, bei denen die Versuchsleiter Kinder und Jugendliche mit Aufgaben trainierten. Nach mehreren Übungsstunden zeigten die Teilnehmer dieser Studien einen höheren IQ als zuvor. Wenn Nachzügler die richtige Unterstützung bekommen, müssen sie also nicht die Dummen bleiben.

Zu viele Abiturienten

Die Vorsicht, mit der die Forscher ihre Daten interpretieren, war bei der Präsentation der Ergebnisse allerdings nicht immer zu erkennen.

So schrieb die Volkswagenstiftung, die die letzte Phase der Studie finanzierte, in einer Pressemitteilung: "Sage mir, wie Deine Eltern und Erzieher Deine Persönlichkeit im Kindergartenalter einschätzen, und ich sage Dir, ob Du als junger Erwachsener wahrscheinlich straffällig wirst oder Drogen nimmst." Die Forscher der Logik-Studie vermieden es dagegen, die Entwicklung Einzelner konkret vorherzusagen.

Die Moral der Schokodiebe

Wie aggressiv die Teilnehmer als Kinder und später als junge Erwachsene waren, hat der Persönlichkeitspsychologe Jens Asendorpf von der Humboldt-Universität in Berlin ausgewertet.

"Sehr aggressive Kinder werden mit hoher Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsene aggressiv sein", sagt er. "Hier lassen sich erschreckend gute Vorhersagen treffen." Er bewertet die Aggressivität im Kindesalter sogar als Indikator für die Kriminalitätsneigung: "Sehr aggressive Kinder werden eher kriminell als andere."

Asendorpf befragte von den 23-jährigen Versuchspersonen diejenigen, die als Kinder zu den aggressivsten 15 Prozent gehört hatten. Ein Drittel von ihnen gab an, schon einmal eine Strafanzeige bekommen zu haben, meist wegen Drogendelikten. Er verglich die aggressive Gruppe mit einer Gruppe eher zurückhaltender Kinder. "Sehr aggressive Kinder hatten ein zwölfmal so hohes Risiko, später einmal eine Strafanzeige zu bekommen", sagt der Psychologe.

Krimineller - oder geschickter?

Er schränkt diese Aussage jedoch selbst ein: Zum Teil könne dieses Ergebnis auch darauf zurückzuführen sein, dass Straftaten bei Aggressiven eher auffallen als bei anderen.

Menschen, die kontrollierter sind, werden also womöglich ähnlich oft kriminell, können ihre Fehltritte aber besser verbergen. Denn aus der Logik-Studie geht hervor, wie viele Jugendliche von Strafanzeigen berichteten - nicht aber, wie viele kriminell waren und vorsichtig genug, sich nicht erwischen zu lassen.

Zudem stellt sich die Frage, wie allgemein gültig das Ergebnis der Studie ist, dass sehr aggressive Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit einmal straffällig werden. Einige Forscher, die selbst an der Logik-Studie beteiligt waren, bezweifeln, dass die Stichprobe wirklich repräsentativ für die Gesamtbevölkerung ist. Denn die Eltern der Kinder verdienten mehr als der Durchschnitt, und gerade die Versuchspersonen, die in einigen Bereichen nicht so gut abschnitten, stiegen im Lauf der Jahre aus der Studie aus.

So hatten in der letzten Phase über 50 Prozent der verbliebenen 152 Teilnehmer Abitur - in einer repräsentativen Stichprobe wären es weniger als 30 Prozent.

Ob sich aber aggressive Kinder durch Erziehung vom Weg in die Kriminalität abbringen ließen, beurteilt Asendorpf skeptisch. Eine hohe Aggressivität sei zum einen Teil durch die Gene bestimmt, zum anderen Teil durch das soziale Umfeld.

"Wir haben diesen Faktor zwar nicht gemessen, aber andere Studien zeigen, dass Freundschaften mit anderen Aggressiven im Jugendalter einen großen Einfluss darauf haben, ob aggressive Kinder wirklich kriminell werden", sagt der Berliner Psychologe.

Einen gezielten positiven Einfluss hält er dagegen für unwahrscheinlich: "Durch Erziehungsmaßnahmen sind stark aggressive Kinder und Jugendliche kaum erreichbar."

Umstrittenes Fazit

Nicht alle Psychologen und Pädagogen würden diesem Fazit zustimmen. Ein Teil der Wissenschaftler vertritt die Auffassung, dass aggressive Menschen durch Erziehung sehr wohl sanfter werden können; einige Projekte an Schulen sprechen dafür.

Ein Beispiel: Im Schweizer Ort Nidau begann 1999 ein solches Projekt, nachdem Vandalismus, Kiffen und Mobbing unter den Schülern stark zugenommen hatten. Dem so genannten Just-Community-Konzept zufolge übernahmen die Schüler selbst Verantwortung; über Fehltritte der Mitschüler berieten gewählte Vertreter in Ausschüssen. Der amerikanische Psychologe Lawrence Kohlberg hatte die Methode in den achtziger Jahren entwickelt und so die Aggressivität an Schulen und in Gefängnissen verringert.

Der Schweizer Psychologe Fritz Oser führte das Konzept in den neunziger Jahren im deutschsprachigen Raum ein. Auch in Nidau wirkte die neue Verantwortung offenbar: Drei Jahre nach Beginn des Projekts hatten Diebstahl und Vandalismus unter den Schülern deutlich abgenommen.

Ist also doch noch nicht programmiert, zu welchem Menschen ein Kind sich entwickelt? Einige Bereiche der Persönlichkeit verändern sich ständig, auch das zeigte die Logik-Studie. Wie moralisch ein Mensch ist, ließ sich zum Beispiel kaum vorhersagen. Auch kleine Schokoladendiebe können also noch gute Menschen werden.

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