Umwelt:Zu wenig tote Bäume

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In Polen wollen Förster einen einzigartigen Urwald vor allem für die Holzproduktion nutzen, kritische Ökologen bringt die Regierung zum Schweigen: das Drama um den Białowieża-Nationalpark.

Von Florian Hassel

Diesen Anblick ist Rafał Kowalczyk nie leid geworden. Deshalb ist er auch an diesem Sommermorgen seit vier Uhr früh auf der Suche. Endlich hat der Zoologe Glück: Vier Wisentmännchen ziehen durch ein Waldstück, dann grasen sie auf einer Lichtung, bevor sie in der Morgensonne durch das fast mannshohe Grasmeer einer Wildwiese tollen.

Mit bis zu 800 Kilo Gewicht sind Hunderte hier lebende Wisente die beeindruckendsten Bewohner des Białowieża-Urwaldes, auf beiden Seiten der Grenze zwischen Polen und Weißrussland, 250 Kilometer östlich von Warschau. "Wir haben hier Wölfe und Luchse, Elche, mehr als 120 Vogelarten, Otter, Tausende einzigartiger Insekten und Käfer", erklärt Kowalczyk, Direktor des Instituts für Säugetierforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften im Dorf Białowieża, das am Waldrand liegt.

Auch die Pflanzenwelt sei einzigartig, mit vielen jahrhundertealten Bäumen, sagt Kowalczyk. "Es ist der letzte große Urwald, den wir in Europa heute noch haben - und er ist jetzt in größerer Gefahr als je zuvor." Denn Polens neue Regierung will im Białowieża-Wald den Holzeinschlag ausweiten, obwohl das geltenden Abkommen widerspricht. Sie will die Menge mindestens verdreifachen und dort allein in den nächsten Jahren hunderttausend Bäume mehr fällen als bisher geplant.

Wer bei der Jagd auf Wisente erwischt wurde, musste mit der Hinrichtung rechnen

Der Białowieża-Urwald, insgesamt 1418 Quadratkilometer groß, steht in Weißrussland als Nationalpark unter Schutz. Auf der polnischen Seite aber gilt dies nur für knapp ein Fünftel des Waldes. Vier Fünftel, teils Naturschutzgebiete, gehören den polnischen Staatsforsten. Die Förster dürfen dort freilich nicht schalten und walten, wie sie wollen: Der Białowieża-Wald, der insgesamt rund zur Hälfte als unberührt gilt, steht als "Natura-2000-Gebiet" unter Aufsicht der EU-Kommission und als Weltnaturerbe unter der Beobachtung der Vereinten Nationen (UN). Menschliche Eingriffe sind dort verboten oder müssen vom EU-Umweltkommissar und dem World Heritage Center der UN-Kulturorganisation Unesco genehmigt werden.

Im zentralen Schutzgebiet dürfen die angelegten Pfade nicht verlassen werden. (Foto: Tobias Gerber/laif)

Dass der Białowieża-Wald seit Ende der letzten Eiszeit vor 8000 oder 9000 Jahren weitgehend unangetastet blieb, verdankt er in den letzten Jahrhunderten vor allem Königen und Zaren. Polens Könige erklärten den Wald zu ihrem Privatbesitz und stellten dessen Wisente schon im Mittelalter unter strengen Schutz: Wer bei der Wisentjagd erwischt wurde, musste mit einer öffentlichen Hinrichtung rechnen. Als das Land nach den polnischen Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts von der Landkarte verschwand, setzte der russische Zar die Schutzpolitik fort.

Ökologen wissen längst, dass es der Artenvielfalt und Erneuerung am besten bekommt, wenn man einen Wald komplett sich selbst überlässt. Doch das ist kein Rezept nach dem Geschmack von Andrzej Antczak und seiner Kollegen. Antczak, prächtiger Vollbart, grünes Försterhemd, ist stellvertretender Oberförster in Hajnówka, einer Kleinstadt am Eingang des Białowieża-Waldes. Nicht zufällig gehört eine Kettensäge zum Stadtwappen: Seit Jahrzehnten lebt das Städtchen vor allem von den Sägewerken und Möbelfabriken. Antczak möchte auch im Białowieża-Wald "aktiven Naturschutz" betreiben. Und zwar so, wie es die auch mit der Politik gut vernetzten Förster in den anderen Staatsforsten, die fast ein Drittel Polens ausmachen, seit Jahrzehnten machen: Bäume fällen und Holz an die Möbelindustrie und andere Kunden verkaufen.

Der "aktive Schutz" passt freilich nicht zu einem Urwald und zu Polens internationalen Verpflichtungen. Schon einmal musste das Land den von den Förstern gewünschten Holzeinschlag nach Druck der EU-Kommission 2012 drastisch zusammenstreichen. Doch das habe, so Antczak, dem Buchdrucker, einer Borkenkäferart und Feind der Fichte, freie Bahn gegeben. "Statt befallene Bäume zu fällen und den Buchdrucker zu bekämpfen, haben wir ihn geschützt - jetzt haben wir Millionen toter Fichten", klagt Antczak.

Forstarbeiter im Nationalpark fällen einen von Schädlingen befallenen Baum, dabei wäre ein natürliches Vermodern gut fürs Ökosystem. (Foto: Wojtek Radwanski/AFP)

Im November 2015 kam eine neue Regierung mit einem neuen Umweltminister ins Amt: Jan Szyszko, ehemals Dozent an einer Forstschule, plädierte schon früher für mehr Holzeinschlag. Umgehend beantragten die Förster für den Białowieża-Wald bei Szyszko eine Vervielfachung der mit EU und Unesco eigentlich bis 2021 festgeschriebenen Holzeinschlagmenge, die aus Sicherheitsgründen oder zur lokalen Versorgung erlaubt ist. Szyszko segnete dies ab und lästerte, die Entscheidung der vorherigen Regierung Polens, den Schutz des Białowieża-Waldes als Weltnaturerbe durch die Unesco 2014 noch ausweiten zu lassen, sei ein "Fehler" gewesen.

Für die meisten Polen freilich ist der Białowieża-Wald eine Art Nationalheiligtum. Auch ihnen gegenüber rechtfertigen Förster und Umweltminister die stärkere Ausbeutung des Waldes deshalb mit dem angeblich notwendigen Kampf gegen den Borkenkäfer. An der Straße nach Białowieża haben die Förster vom Buchdrucker kahl gefressene, tote Bäume aufgestellt, daran hängen Schilder mit der Aufschrift: "Willst du so einen Wald?"

Wissenschaftler halten dies für bewusste Irreführung. Biologe Kowalczyk führt durch die Wälder um Białowieża. Er stoppt an einer Stelle, an der eine dem Buchdrucker zum Opfer gefallene, kahle Fichte neben der andern steht. "Das ist die Folge von Monokulturen aus Fichten, wie sie Förster und Holzindustrie wegen ihres schnellen Wachstums bevorzugen", sagt Kowalczyk. Weiter geht es, zu einem unter Schutz stehenden, unberührten Waldstück, mit wenigen abgestorbenen Fichten inmitten grün blühender Laubbäume. "Dies ist ein lebender, alter Mischwald - ungleich widerstandsfähiger als eine Monokultur", erklärt Kowalczyk. "Borkenkäferausbrüche gibt es im Białowieża-Wald seit Jahrhunderten. Sie schaden dem Wald nicht - im Gegenteil."

Der Biologe führt zu einem umgestürzten Baum. Sein Holz ist zerfressen, vermodert und überwuchert von Moos. "Ein sterbender oder toter Baum bietet Raum für Höhlen von Spechten und Pygmäeneulen, für seltene Würmer, Käfer und Pilze. Luchse schleichen sich dicht an ihre Opfer, bevor sie zuschlagen. Sie nutzen umgestürzte Bäume als Blickschutz. Scheinbar tote Bäume bieten Lebensraum für Tausende Spezies und sind Teil eines großen Kreislaufs, des Biosystems Wald."

Der Park ist eines der letzten Rückzugsgebiete für wild lebende Wisente. (Foto: imago)

Im Nationalpark Bayerischer Wald und den Nachbarwäldern in Tschechien, vor Jahrzehnten ebenfalls vom Borkenkäfer befallen, wiesen Forscher wie Marco Heurich nach, dass Borkenkäferausbrüche "entgegen der landläufigen Erwartung" Baumwachstum langfristig fördern und Nichtstun "zu den effektivsten Methoden gehört, um in von Käfern gefällten Wäldern Wiederaufforstungsziele zu erreichen". Diese Erkenntnisse übernahm auch die EU.

All dies dürften auch Polens Förster und der neue Umweltminister wissen. Am 30. November 2015 etwa reichte Polen bei der Unesco einen gemeinsam mit Weißrussland erstellten Bericht zum Białowieża-Wald ein: In diesem fehlt jeder Hinweis auf Gefahren durch den Borkenkäfer. Im Gegenteil stellt der Bericht eine "ungenügende Menge an toten und verfaulenden Bäumen" in den unter Aufsicht der Förster stehenden Waldteilen fest, was "eine Bedrohung" für die Borkenkäfer sei.

Die elegante Dame mit Pelzstola zum weißen Rock empfängt auf der Sonnenterrasse

"Die in Białowieża geplante Erhöhung des Einschlages in diesem in ganz Europa einmaligen Urwald ist ein leichtsinniger Eingriff, und die Begründung mit der angeblichen Gefahr durch den Borkenkäfer ein fadenscheiniges Argument, das die rein wirtschaftlichen Interessen verdecken soll", sagt Jörg Müller, Forschungsleiter des Nationalparks Bayerischer Wald. Die polnische Greenpeace-Sektion hat ermittelt, dass die Förster die Hälfte der Bäume dort gefällt hatten, wo es Unesco-Kriterien zufolge verboten war. "Auch den neuen Plänen zufolge sollen zu einem erheblichen Teil überhaupt keine von Buchdrucker befallenen Fichten gefällt werden, sondern alte, auch kommerziell sehr wertvolle Laubbäume", sagt Robert Cyglicki von Greenpeace.

Nach Beschwerden von sieben Naturschutzorganisationen schickten UN und EU-Kommission Anfang Juni Fachleute nach Białowieża. Dort trafen sie Förster und Anhänger der klassischen Forstwirtschaft - zum Beispiel die stellvertretende Gemeinderatsvorsitzende Elzbieta Laprus. Laprus, eine elegante Dame mit Pelzstola zum weißen Rock, empfängt auf der Sommerveranda ihres Holzhäuschens. Als Lehrerin an der Försterschule im Dorf wollte Laprus ihren "Schülern Hochachtung für Förster beibringen". Heute würden die Förster, leider, an der Ausübung ihres Berufes und der Bekämpfung des Borkenkäfers gehindert. "Deswegen haben wir heute statt schönen, grünen Bäumen einen toten Wald. Und Umweltschützer." Die stammten alle nicht aus der Region, wollten den Menschen aber gleichwohl vorschreiben, wie sie zu leben hätten.

Eine Waldschutzgruppe? Ihr steht der lokale Besitzer eines Sägewerkes vor

Elzbieta Laprus und Mitglieder der Waldschutzgruppe Santa erzählten den Inspektoren, dass "alle Einwohner hier die Förster und ihre Pläne unterstützen". Die Glaubwürdigkeit der Santa-Gruppe leidet allerdings darunter, dass ihr ein lokaler Sägewerksbesitzer vorsteht. Außerdem wird die Gruppe Recherchen der Aktivistin Joanna Łapińska zufolge von den staatlichen Förstern mitfinanziert. Die 37 Jahre alte Bibliothekarin sammelte im 22 000-Einwohner-Städtchen Hajnówka binnen einer Woche 400 Unterschriften gegen die Pläne der Förster. "Es würden hier noch viel mehr Menschen protestieren, wenn sie in unserer von der Holzlobby dominierten Region nicht Angst hätten, ihren Job zu verlieren", sagt Łapińska.

Die EU überzeugten die Argumente der Förster offenbar nicht: Am 16. Juni eröffnete die Kommission formell ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen. Die Vereinten Nationen beraten den Fall Białowieża ab dem 10. Juli auf der Sitzung des World Heritage Councils in Istanbul. Den Tagungsunterlagen zufolge sind die UN-Experten "höchst besorgt" und wollen Polen voraussichtlich zur sofortigen Aufgabe aller Holzeinschlagpläne auffordern. Andernfalls könne der Wald zum "bedrohten Welterbe" erklärt werden. Bisher allerdings gibt die polnische Regierung nicht nach. So ermitteln die der Regierung unterstellten Staatsanwälte nun gegen den Umweltminister der alten Regierung: wegen angeblicher Degradierung des Białowieża-Walds durch Zulassen der "massenhaften Entwicklung" des Borkenkäfers.

Auch die Einsprüche anerkannter Wissenschaftler brachte die Regierung bisher nicht zum Einlenken. Biologe Kowalczyk meldete sich als Mitglied des Staatsrates für Umweltschutz zu Wort; 24 andere prominente Wissenschaftler protestierten gegen die Abholzpläne und plädierten dafür, den gesamten polnischen Teil des Białowieża-Walds zum Nationalpark zu erklären. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Mitte Mai bekam Kowalczyk einen Brief des Ministers: Es war die Entlassung aus dem Staatsrat. Ähnliche Briefe bekamen 31 weitere Mitglieder des insgesamt 39 Wissenschaftler starken Gremiums. Sie wurden durch Gefolgsleute des Umweltministers ersetzt.

© SZ vom 09.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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