Teilchenphysik:Die Physiker im Fels

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Tief unter dem Gran Sasso im Apennin befindet sich das weltgrößte unterirdische Labor für Astroteilchenphysik. Hier suchen Forscher nach den Geheimnissen des Universums.

Andrea Bachstein

Ausgerechnet in einem Berg also suchen sie nach den Geheimnissen des Universums. Sie stellen 1400 Meter Fels zwischen sich und den Himmel. Nichts soll sie ablenken, darum verwenden sie neben modernsten Messgeräten auch Bleibarren, die seit der Antike in einem versunkenen Schiffswrack lagen.

Computerrekonstruktion einer Beobachtung im Opera-Experiment. Die blaue Spur wurde vermutlich ausgelöst durch den Zerfall eines sogenannten Tau-Leptons, bei dem ein Tau-Neutrino entstanden ist (Foto: Gran Sasso Laboratory)

Und sie brauchen Geduld - nach fünf Jahren hat es in ihrer Apparatur sozusagen zum ersten Mal geklingelt. Die Forscher, die sich hier im größten Massiv des Apennin, dem fast 3000 Meter hohen Gran Sasso in den Abruzzen, eingegraben haben, schreiben jetzt womöglich ein fehlendes Stück der Weltformel.

Um sie zu besuchen, muss man eine unscheinbare Abzweigung der Autobahn Rom-Teramo finden. Sie führt vom Gran-Sasso-Tunnel zu großen Stahltoren im Fels. In alten James-Bond-Filmen verbarg sich an solchen Orten die Kommandozentrale des Bösewichts.

Tatsächlich liegt hier das Nationallabor Gran Sasso, das weltgrößte unterirdische Labor für Astroteilchenphysik. Es gehört zum Nationalen Institut für Kernphysik INFN. Vor 31 Jahren hatte dessen damaliger Chef die Idee, den Autobahnbau zu nutzen, um eine Forschungsstätte zu errichten, die weit unter der Erdoberfläche liegt und doch leicht zugänglich ist.

Drei große Hallen, jede 100 Meter lang, 20 Meter breit und 18 Meter hoch, wurden in den Berg getrieben und durch Tunnel verbunden. Röhren ziehen sich durch die Gänge, man sieht Tanks und Druckbehälter, Kühlaggregate mit vereisten Leitungen, an manchen Stellen zischt es - wer hier herumläuft, muss einen Schutzhelm tragen. Und kühl ist es, sechs bis sieben Grad nur hat es im Berg.

Italienische Hausmannskost in der Kantine

600 bis 800 Wissenschaftler aus 25 Ländern kommen jedes Jahr hierher, um Experimente durchzuführen. Auch die oberirdischen Teile des Instituts, wo das Panorama der Abruzzen vor dem Fenster liegt, haben wegen der vielen Gäste das Flair eines Wandercamps:

In der Kantine gibt es italienische Hausmannskost, die genauso auf eine Berghütte passen würde. Und fast alle tragen Fleecepullis, Bergschuhe und Anoraks. Auch die Direktorin des Nationallabors, Lucia Votano, kommt in Jeans und Pullover. Hier oben kann man sowieso nicht viel anderes tun als forschen und Berge angucken.

Matthias Junker ist einer der rund 90 ständigen Mitarbeiter des Labors. Der großgewachsene Westfale lebt seit 1993 hier. Er hat in Münster und Bochum studiert und kam für seine Doktorarbeit an den Gran Sasso. Seither widmet er sich den Neutrinos, kleinen, elektrisch ungeladenen Elementarteilchen, die alles durchdringen.

Milliarden von ihnen rasen in jeder Sekunde durch den menschlichen Körper, ohne Spuren zu hinterlassen. Sie fliegen unbeeindruckt von Fels und Stein zum Beispiel vom mehr als 700 Kilometer entfernten Genf ins Gran-Sasso-Labor. Die Chance, dass sie sich hier messen lassen, ist zwar verschwindend gering. Damit die Forscher es aber bemerken, brauchen sie viel Material, erklärt Junker: Es schirmt andere Teilchen ab, die gerade durch diese Gegend des Universums reisen.

So flüchtig die Neutrinos sind, so lohnend ist die Jagd auf sie. Sie könnten Aufschluss geben über ungelöste Probleme der Gravitation und des Urknalls. Darum sagt Junker optimistisch: "Wir fotografieren Neutrinos."

Der Fotoapparat namens "Opera" ist gewaltig. Es zischt vernehmlich, auf einer Warnlampe leuchtet rot die Schrift "Magnet on" auf. Von außen sieht man einen Apparat aus hohen Lamellenwänden und aufgeschichteten silbrigen Klötzen.

Davor fährt ein Apparat mit Greifzangen auf und ab, der einzelne Klötze herausziehen kann. 150.000 davon gibt es, jeder gut acht Kilogramm schwer. Sie sind aus Fotomaterial und Blei geschichtet. Das Schwermetall bremst die Neutrinos in seltenen Fällen, dann hinterlassen sie Spuren auf dem Film. Der eingeschaltete Magnet zwingt alle unerwünschten, geladenen Teilchen auf gebogene Kurse, so können die Forscher die Partikel identifizieren und die trotz aller Mühen vorhandenen Störer aussortieren.

"Opera" ist eines der 15 Experimente, die derzeit im Berg laufen, Forscher aus 13 Ländern sind beteiligt, auch deutsche. Und dass sich jetzt tatsächlich eines der gesuchten Teilchen in der fast deckenhohen Anlage in Halle C verfangen hat - dass es auch noch kurz vor der Ankunft seinen Charakter geändert hat, das sehen die Physiker als Durchbruch an.

"Wir beten nach Cern"

Sie haben mit Kollegen im Genfer Kernforschungszentrum Cern daran gearbeitet. Diese schicken, so gut es eben geht, Neutrinos auf direktem Weg gen Italien. Binnen 2,4 Millisekunden kommen sie im 730 Kilometer entfernten Gran Sasso an.

Dass die Hallen dort exakt Richtung Genf weisen, ist reines Glück. "Wir beten nach Cern", sagt Matthias Junker.

An der Grenze dessen, was mit Hightech erlaubt, benutzen die Wissenschaftler aber auch antikes Material. In einem Container in einem Labortunnel liegen Barren mit seltsam verkrusteter Oberfläche. Es ist Blei, und zwar aus der Römerzeit. Vor 2000 Jahren ist eine Schiffsladung davon vor Sardinien untergegangen.

Archäologen haben es den Physikern überlassen. Für die hat es eine wunderbare Eigenschaft - es besitzt so gut wie keine radioaktive Strahlung mehr. Die ist im Blei ohnehin gering, und in der Zeit auf dem Meeresgrund ist sie noch einmal auf ein 100.000-stel gesunken. Anders als Stoffe an der Oberfläche hat das Metall nichts mehr von der allgegenwärtigen Radioaktivität der Umwelt aufgenommen. So wurde es zum idealen Material, die Versuche zu schützen.

Fragt man Matthias Junker unten im Berg nach dem praktischen Nutzen dieses Aufwands, antwortet er, das könne man noch nicht sagen:

"Das ist das Wesen von Grundlagenforschung. Wilhelm Röntgen hat bei seinen Spielereien damals auch nicht geahnt, wie viele Anwendungen seine Entdeckungen heute finden."

© SZ vom 09.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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