Konfliktforschung:"Ethnien und Religion sind keine Kriegsursachen"

Muslime gegen Christen, Schiiten gegen Sunniten, arabische Reitermilizen gegen "Schwarzafrikaner" - in den meisten Kriegen verlaufen die Fronten zwischen Volksgruppen und Religionen. Doch die eigentlich Ursachen liegen woanders, sagt Günther Schlee vom MPl für Ethnologie.

Markus C. Schulte von Drach

Im Irak kämpfen Muslime gegen Christen, Schiiten gegen Sunniten. In Darfur stehen sich arabische Reitermilizen und "Schwarzafrikaner" gegenüber. In Ex-Jugoslawien brachten sich Serben, Kroaten und bosnische Muslime gegenseitig um und in Ruanda massakrierten Hutu Tausende Angehörige vom Stamme der Tutsi. Die eigentlichen Ursachen für solche Konflikte, sagt Günther Schlee vom Max-Planck-Institut (MPI) für ethnologische Forschung, seien weder in der Zugehörigkeit zu einer Ethnie noch in der Religion zu sehen.

Günther Schlee

Günther Schlee vom MPl für Ethnologie in Halle/Saale.

(Foto: online.sdewissen)

sueddeutsche.de: Die meisten Konflikte und Kriege haben offenbar einen ethnischen oder religiösen Hintergrund. Was lässt sich aus wissenschaftlicher Sicht dazu sagen?

Günther Schlee: Sie haben häufig eine ethnische oder religiöse Ausdrucksform. Aber die eigentlichen Konflikt- oder Kriegsursachen haben damit sehr wenig zu tun.

sueddeutsche.de: Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?

Schlee: Sie müssen sich die zeitliche Abfolge ansehen. Eine Ursache steht am Anfang der Entwicklung und löst die folgenden Ereignisse aus. Bei Konflikten, die als ethnisch oder religiös bezeichnet werden, ist es aber oft so, dass sich erst im Verlauf ein entsprechendes Bewusstsein oder eine Verhärtung dieser Identitäten herausbildet.

sueddeutsche.de: Aber es stehen sich doch meist ethnische oder religiöse Gruppen gegenüber, die bereits zuvor existiert haben.

Schlee: Wenn man sich diese Fälle genau anschaut, verschwimmen die Unterschiede. In Darfur zum Beispiel haben große Teile der nicht arabischen Bevölkerung eine lange islamische Tradition, und zu den arabischen Reitermilizen gehören auch Schwarze. In den Medien wird das zu einfach dargestellt.

sueddeutsche.de: Und wie ist es zum Beispiel mit Israelis und Palästinensern? Da stehen sich zwei sowohl ethnisch als auch religiös deutlich unterschiedliche Parteien gegenüber.

Schlee: Die These vom Kampf der Kulturen besagt: Je größer der Unterschied, desto höher das Konfliktpotential. Aber schauen Sie sich pluriethnische oder multikulturelle postkoloniale Gesellschaften mit Gruppen von Menschen afrikanischen, europäischen, asiatischen und indischen Ursprungs an.

Die kulturelle Verschiedenheit korreliert nicht mit der Konflikthäufigkeit. Auf der anderen Seite finden wir häufig Konflikte gerade zwischen kulturell besonders ähnlichen Gruppen. Als grobe Faustregel kann man sagen: Zwischen Menschen mit völlig unterschiedlichen Kulturen ist die Konfliktwahrscheinlichkeit geringer.

sueddeutsche.de: Palästinenser und Israelis sind sich kulturell zu ähnlich?

Schlee: Die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen sind jedenfalls größer als zwischen den beiden Parteien und anderen Gruppen. Ein anderes Beispiel ist Nordirland, wo Katholiken und Protestanten streiten. Beide Parteien sind sich so ähnlich, wie es unterscheidbare Gruppen überhaupt sein können. Selbst in ihren Paraden gleichen sie sich.

sueddeutsche.de: Was sind die eigentlichen Konfliktursachen?

Schlee: Das kann der Zugang zu materiellen Ressourcen sein, etwa Öl, Wasser, Weideland, Diamanten. Es können auch Chancen auf dem Arbeitsmarkt sein. In Nordirland wurde ein ganzer Bevölkerungsteil vom öffentlichen Sektor ausgegrenzt. Allerdings sind die Gruppen, die sich gegenüberstehen, natürlich in keinem Fall durch eine umkämpfte Ressource determiniert. Man könnte die Konfliktlinien zwischen ihnen immer auch anders ziehen.

sueddeutsche.de: Warum verlaufen aber dann die Fronten so häufig zwischen verschiedenen Religionen oder Ethnien?

Schlee: Diejenigen, die die strategischen Entscheidungen fällen, müssen sich überlegen, wie sie ihre eigene Gruppe oder Allianz stark genug machen, um die umkämpften Ressourcen für sich zu gewinnen - aber nicht so stark, dass nach einem Sieg mit zu vielen geteilt werden muss. Und Bündnispartner sucht man sich unter Menschen, mit denen man Gemeinsamkeiten hat. Wir kennen Identifikation über die Staats-, Volks-, Kultur- oder Religionszugehörigkeit.

Beispiel Balkan

sueddeutsche.de: Können Sie das an einem Beispiel veranschaulichen?

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Darfur: Rebellen der Sudanesischen Befreiungsarmee SLA. Auch die "Schwarzafrikaner" haben eine lange islamische Tradition.

(Foto: Foto: dpa)

Schlee: Nehmen wir das frühere Jugoslawien: Die einzelnen Parteien hätten sich ausschließlich auf ihre Besonderheiten als Serben, Kroaten oder Bosnier berufen können. Aber dann hätte sich ihr Appell jeweils nur an eine kleine Gruppe gerichtet. Die Serben haben deshalb auf die panslawische Identität gesetzt - zu der dann auch die Russen gehörten.

Weil die Karte der sprachlichen Verwandtschaft von den Serben ausgespielt wurde, hatten die bosnischen Muslime keine andere Option mehr als die religiöse: Sie haben deshalb auf die weltweite Gemeinschaft der islamischen Gläubigen gesetzt. Dabei sind viele bosnische Muslime gar nicht religiös. Schon deshalb scheidet Religion als Begründung des Konflikts aus.

sueddeutsche.de: Es haben tatsächlich muslimische Kämpfer aus aller Welt auf Seiten der bosnischen Muslime gekämpft. Wenn es eigentlich um materielle Ressourcen ging, was hatte ein Heiliger Krieger aus Malaysia davon, dort zu kämpfen?

Schlee: Die ausländischen Kämpfer, stark religiöse Muslime, folgten vermutlich eher einer globalen Agenda, die sich auf die Rivalität mit dem Westen bezieht. Neben anderen Brandpunkten wie dem Nahen Osten oder Afghanistan war Bosnien für sie nur ein weiteres Schlachtfeld in einem größeren Krieg.

sueddeutsche.de: Aber wo ist da der Zusammenhang mit materiellen Ressourcen?

Schlee: Ein malaysischer Muslim zum Beispiel könnte motiviert sein durch die wirtschaftlichen Rivalitäten zwischen seiner Heimat als Schwellenland und den westlichen Industrienationen. In dem Sinne könnte er den Bosnier als muslimischen Bruder anerkennen, während der einfach um sein Heim kämpft.

Anstatt sich die Akteure und ihre jeweiligen Entscheidungen in den einzelnen Auseinandersetzungen genau anzusehen, werden Konflikte und ihre Ursachen zu global betrachtet. Wenn man sich den selben Konflikt von verschiedenen beteiligten Parteien erklären lässt, hat man schnell den Eindruck, es würden gleichzeitig drei oder vier verschiedene Kriege im selben Gebiet ausgefochten.

sueddeutsche.de: Bevor sich die Konfliktparteien Verbündete gesucht hatten, waren sie bereits deutlich zu unterscheiden. Diese Konfliktlinien gab es schon vor den Gewalttätigkeiten.

Schlee: Als sich einander ausschließende Einheiten wurden die ethnischen Gruppen aber erst im Konflikt erschaffen. Die ethnische Zugehörigkeit war nur ein wichtiges Mobilisierungselement für bestimmte Akteursgruppen, die den Konflikt wollten.

sueddeutsche.de: Das heißt, die Angehörigen der einzelnen Konfliktparteien haben sich zum großen Teil zuerst nicht mit einer Ethnie identifiziert?

Schlee: Es gab zum Beispiel in Sarajewo kurz vor Ausbruch der großen Eskalation große Demonstrationen für einen multiethnischen Staat. Die Demonstranten wurden von Scharfschützen beschossen - und plötzlich musste jeder bei der eigenen Miliz Zuflucht suchen. Wer zum Beispiel einen serbischen Vater und eine kroatische Mutter hatte, musste sich für eine Seite - und damit für eine Identität - entscheiden. Es gab einen Schneeballeffekt, der die Bedeutung der ethnischen Gruppen erhöhte.

sueddeutsche.de: Sie sprechen von Akteursgruppen, die den Konflikt wollten. Wen meinen Sie damit? Und um welche Ressource ging es diesen Leuten?

Schlee: Jeder Separatismus verspricht den zukünftigen politischen Eliten einen Gewinn. Wenn sich ein größerer Staat in mehrere kleine aufteilt, führt das zum Beispiel zu mehr Ministerposten. Diese Eliten müssen sich überlegen, wie sie die Leute für ihre Zwecke mobilisieren können.

Da kommen dann sprachliche, religiöse oder ethnische Appelle ins Spiel, je nach den gegebenen Identifikationsmöglichkeiten. Und dann wird bei den Gefolgsleuten Angst geschürt, dass sie von den jeweils "anderen" vertrieben oder getötet werden.

sueddeutsche.de: Den USA und ihren Verbündeten wird häufig vorgeworfen, es wäre ihnen beim Sturz Saddam Husseins vor allem um die Sicherung der Ressource Öl gegangen. Das wirkt ein wenig platt.

Schlee: Den zweiten Irakkrieg muss man als die Verlängerung des ersten sehen, der auf die Invasion von Kuwait folgte. Dass für alle Beteiligten Öl eine große Rolle spielte, lässt sich wohl kaum leugnen. Der Irak-Konflikt ist übrigens ein schönes Beispiel dafür, dass die Identifikation der Konfliktparteien als Christen, Demokraten, Muslime, Islamisten et cetera sich nicht aus der Natur der umkämpften Ressource herleiten lässt.

sueddeutsche.de: Wieso das?

Schlee: Bei einem zukünftigen Irak-Konflikt könnte es um das Wasser von Euphrat und Tigris gehen. Ob dann dieselben Identifikationen stattfinden, dieselben Allianzen geschmiedet und dieselben Feindbilder benutzt werden, bleibt abzuwarten.

Veränderungen seit dem Kalten Krieg

sueddeutsche.de: Es wird häufig gesagt, dass sich die Art der Konflikte seit dem Ende des Kalten Krieges verändert haben. Sehen Sie das auch so?

Schlee: Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Kriege zwischen Nationalstaaten. Die Konfliktlinien verliefen zwischen Nationen oder supranationalen Zusammenschlüssen. Die Weltkriege wurden unter ethnisch-nationalen Gesichtspunkten geführt. Wobei die Gruppengrenzen nicht so klar gewesen sind, wie das im Nachhinein häufig interpretiert wird.

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Parade des Oranier-Ordens. Es gibt kaum kulturelle Unterschiede zwischen den verfeindeten Protestanten und Katholiken in Nordirland.

(Foto: Foto: AP)

sueddeutsche.de: Wieso? Es standen sich zuerst Deutsche und Alliierte gegenüber, dann der Osten und der Westen. Diese Gruppen erscheinen doch relativ homogen.

Schlee: Schauen Sie sich die beklagenswerteste Gruppe der Opfer des Dritten Reiches an: Die Juden, die ja noch nicht einmal eine Konfliktpartei waren. Die Nazis mussten sie aus dem deutschen Volk herausdefinieren. Sie waren ja als Juden meist gar nicht erkennbar. Viele hatten als deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg gekämpft. Es kam zu einer künstlichen Abgrenzung der Mehrheit der Deutschen von einer Minderheit anderer Deutscher.

sueddeutsche.de: Die Konfliktparteien - Völker, Volksgruppen oder Nationen - waren also nie so homogen, wie wir sie im Nachhinein wahrnehmen?

Schlee: Nein. Aber die Zugehörigkeit zu einer Ethnie hat während der Kriege des 20. Jahrhunderts natürlich trotzdem eine große Rolle gespielt. Nach 1945 war die Ethnizität vielen Menschen deshalb suspekt. Sehr viel höher angesehen waren Vorstellungen vom Weltbürger und der Gleichheit aller Menschen. Das hat wieder nachgelassen. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben religiöse und ethnische Identifikation eine neue Konjunktur.

sueddeutsche.de: Wie kommt das?

Schlee: Das hängt unter anderem damit zusammen, dass manche ethnischen und religiösen Minderheiten - zurecht - von den Vereinten Nationen geschützt werden. Der Erfolg von Minderheiten, etwa Sonderrechte zu beanspruchen, hat dazu geführt, dass immer mehr Gruppen auf die ethnische Karte gesetzt haben.

In Darfur etwa klinken sich die lokalen Konfliktparteien in globale Diskurse ein. Die Reitermilizen stellen sich als die islamisch-arabische Seite dar und hoffen auf Unterstützung aus Libyen oder Khartum, die "Schwarzafrikaner" setzen darauf, dass ihre Unterdrückung im Westen mit der Sklaverei und den Bürgerrechten sowie dem Schutz autochthoner Bevölkerungen assoziiert wird. Man übersetzt den lokalen Konflikt in eine Sprache, die weltweit verstanden wird.

Die Bedeutung der Religion

sueddeutsche.de: Man hat heute den Eindruck, dass in den letzten Jahren gerade die Bedeutung der Religion bei Konflikten zugenommen hat. Die Fronten zwischen Christen und Muslimen verhärten sich. Sehen Sie hier auch Zusammenhänge mit eigentlich nicht religiösen Faktoren?

Schlee: Dabei spielt vermutlich die sogenannte Purifizierung eine Rolle - die Abgrenzung von Vertretern der reinen Lehre und der genauen Regelbefolgung gegenüber weniger streng Gläubigen. Das beobachtet man in einigen islamischen Ländern. Und auch in manchen Teilen des Westens kann man in der Politik vor allem in den letzten 15 Jahren eine zunehmende Orientierung in Richtung christliche Religion beobachten - in Reaktion auf eine wirkliche oder vermeintliche Bedrohung durch den Islam.

sueddeutsche.de: Das klingt aber doch nach religiösem Konfliktpotential.

Schlee: Dahinter steckt aber, dass sowohl unter den Muslimen als auch den Christen in vielen Ländern die Eliten an einen Punkt gekommen sind, an dem sie begründen müssen, warum nicht alle den gleichen Zugang zu den Ressourcen und das Recht auf Mitsprache haben sollen.

sueddeutsche.de: Es geht nicht eigentlich um Religion, sondern um Macht?

Schlee: Ja. In islamischen Ländern haben die Gruppen, die den Glauben dort verbreitet haben, die Eliten gebildet. Aber was tut man, wenn alle Muslime sind? Man sucht Ausschlusskriterien für die Eliten, die eigentlich nichts mehr zu tun haben mit den ursprünglichen Gründen für die Elitenbildung. Man erklärt sich zum richtigen Muslim, und die anderen zu falschen.

sueddeutsche.de: Und im Westen?

Schlee: Ein Beispiel sind die USA. Wenn es darum geht, jemanden zu finden, der für die Lösung politischer Aufgaben am besten qualifiziert ist, warum ist es dann ein entscheidendes Merkmal, ob jemand in seiner Jugend Marihuana geraucht hat? Oder ob er homosexuell ist? Wir haben in einigen westlichen Gesellschaften eine Rigidisierung von Formen der Moral und eine Verkirchlichung der Politik, die mit Sachverstand nichts zu tun haben.

sueddeutsche.de: Ist diese Purifizierung ein neues Phänomen?

Schlee: Nein. Die Entwicklung im Islam, und die Polarisierung zwischen Islam und dem Westen ist zweifellos ein Phänomen, das sich in den letzten 15 Jahren verstärkt hat. Aber überall, wo ein einmal propagierter Standard von allen erfüllt wird, gibt es die Tendenz der Eliten, diesen Standard hochzuschrauben, damit ihn nicht mehr alle erfüllen. Das finden Sie in allen Ländern und zu allen Zeiten, die Antike eingeschlossen. Dieses Prinzip lässt sich universal anwenden. Sogar auf ökologische Lebensstile. Da grenzen sich manche Veganer als Vertreter der reinen Lehre von den gewöhnlichen Vegetariern ab.

sueddeutsche.de: Im Westen beobachten wir aber langfristig auch Tendenzen zur Liberalisierung: Berlins Bürgermeister hat es offenbar geschafft, gerade von seinem Coming-out als Homosexueller zu profitieren.

Schlee: Der Prozess der Purifizierung ist nicht universell in dem Sinne, dass er ständig und in allen Gliederungen der Gesellschaft zu finden ist. Aber Sie stoßen überall auf Beispiele.

sueddeutsche.de: Wie müsste eine erfolgreiche Friedenspolitik Ihrer Meinung nach aussehen?

Schlee: Man sollte der Ethnisierung und der religiösen Polarisierung keinen Vorschub leisten und ethnische Stereotypisierungen und Grenzziehungen immer hinterfragen. Man sollte eine allgemeingültige Staatsbürgerschaft und die Idee der Gleichheit nicht aufgeben zu Gunsten von Gruppenrechten. Denn wenn Aufteilungen festgeschrieben werden, fördert man die Fragmentierung der Welt in ethnisch oder religiös definierte Interessengruppen. Und man sollte an der Idee des Kosmopolitismus oder des universalen Staatsbürgertums festhalten.

Günther Schlee ist Direktor am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle an der Saale. Seine Theorie religiöser und ethnischer Konflikte erklärt Schlee ausführlich in seinem Buch "Wie Feindbilder entstehen", erschienen im Beck Verlag. ISBN-10: 3406547435 ISBN-13: 978-3406547430 Preis: 14,90 Euro

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