Serie: 200 Jahre Darwin (15):Kulturkampf der Geschöpfe

Kreationismus ist ein religiöser Gegenentwurf zu einem Wissenschaftsglauben, der durch Erkennen Lebenssinn gewinnen will.

Friedrich Wilhelm Graf

"Schöpfung" steht im Zentrum ganz unterschiedlicher religiöser Symbolsprachen. In nahezu allen Religionen wird vom Ursprung des Lebens und der Abhängigkeit der Welt von Gott oder des Menschen von den Göttern erzählt. Gerade in den drei großen monotheistischen Religionsfamilien wird Gott als Schöpfer des Himmels und der Erden verehrt.

Schöpfung

Gott bei der Erschaffung von Sonne, Mond und Sternen. Zeichnung von Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872).

(Foto: Foto: oh)

Die beiden Schöpfungserzählungen im ersten Buch Mose sind oft buchstäblich als Weltentstehungsberichte gelesen worden. Aber es geht um anderes. Martin Luther hat im "Kleinen Katechismus" den ersten Artikel des christlichen Glaubensbekenntnisses existentialistisch gedeutet: "Ich glaube, dass Gott mich geschaffen hat . . ."

Kein Mensch hat sich selbst das Leben gegeben. Wir alle leben von Voraussetzungen, die uns nicht zur Verfügung stehen. Schöpfungsglaube ist ein Medium intensivierter Selbstreflexion des Menschen. Wer den Unterschied von Schöpfer und vornehmstem Geschöpf kennt, kann seine Endlichkeit konstruktiv annehmen und den Lebensmoment ernst nehmen, auskosten.

Sprachen der Schöpfung implizieren eine bestimmte Ordnungslogik. In Schöpfungsmythen werden überkomplexe Wirklichkeit und chaotische Vielfalt sinnhaft geordnet. Indem das unbestimmte Viele auf den einen Schöpfer zurückgeführt wird, gewinnt es Bestimmtheit, Struktur.

Jüdische wie christliche Theologen sprachen deshalb von Schöpfungsordnungen, um den allgemeinsten Ordnungsrahmen zu benennen, der allem menschlichen Handeln als unverfügbar vorausliegt. Basisinstitutionen der Gesellschaft wie Ehe, Familie und Staat wurden zu Schöpfungsordnungen sakralisiert. So ist Schöpfung immer auch ein Grundbegriff politisch-sozialer Sprache. Wer eine Institution als vom Schöpfer selbst gestiftet deutet, will sie der Verfügung des Menschen entziehen. Und wer sich Schöpfungssprache erfolgreich zu eigen macht und seine Schöpfungssicht durchsetzt, verfügt über religiös-politische Deutungsmacht.

Die aktuellen Auseinandersetzungen um den modernen Kreationismus lassen sich nur mit Blick auf den fundamentalpolitischen Gehalt religiöser Schöpfungssprache angemessen deuten. Im Streit zwischen den Anhängern Darwins und den diversen Kreationisten geht es keineswegs nur um die Frage, wer Entstehung und Entwicklung des Lebens richtig versteht. Gekämpft wird um kulturelle Deutungsmacht. Zur Debatte steht erneut das spannungsreiche Verhältnis von wissenschaftlicher Rationalität und religiösem Glauben. Gestritten wird primär über die normativen Grundlagen des Gemeinwesens und verbindliche Ethik.

Der Kreationismus ist eine mächtige religionskulturelle Bewegung, keineswegs nur in den USA. Gut zwei Drittel der US-Bürger erklären, dass Kreationismus gewiss oder zumindest mit größter Wahrscheinlichkeit wahr sei. Auch in Europa steigen die Zustimmungsraten.

Kreationisten schreiben gern und viel - vor allem gegeneinander

Im deutschen Sprachraum hält jeder Fünfte den biblischen Mythos für wahr, Universum, Erde und Leben des Menschen seien vor etwa 6000 Jahren von Gott selbst in sechs Tagen erschaffen worden. Zwar lehnen große protestantische Volkskirchen wie die EKD und die Church of England kreationistische Theorien ab. Doch lässt sich im evangelikalen Spektrum der europäischen Protestantismen viel kreationistisches Denken beobachten.

Die römisch-katholische Kirche nutzt die Kreationismus-Kontroversen gern zur religionspolitischen Profilierung. Sie lehrt Kreatianismus statt Kreationismus, also die Ansicht, dass Gott jede menschliche Seele durch einen je eigenen unmittelbaren Schöpfungsakt ins Leben ruft.

Kreationismus wird in Rom als biblizistischer Irrweg eines schriftfixierten protestantischen wie islamischen Fundamentalismus verworfen. Denn große Zustimmung finden Argumente westlicher protestantischer Kreationisten inzwischen auch im islamischen und jüdisch-orthodoxen Diskurs. In diesen interreligiösen Ursprungsdiskursen geht es um harte Moralpolitik: Kreationisten unterschiedlicher Couleur schließen etwa Zweckbündnisse im Kampf gegen die Akzeptanz von Homosexualität und lehnen gleichgeschlechtliche Partnerschaften als "schöpfungswidrig" ab.

Kreationismus ist kein klar definierter Begriff. Begriffshistorische Studien fehlen. Seit spätestens den 1920er Jahren lässt er sich teils als polemische Fremdbezeichnung, teils als pathetische Selbstbezeichnung nachweisen. Die Primärliteratur ist kaum noch zu überschauen. Kreationisten schreiben gern und viel - vor allem gegen andere Kreationisten. Kreationismus ist insoweit ein Pluralwort, das zahlreiche konkurrierende Positionen in einem intellektuell äußerst spannenden religiösen Gegendiskurs zum herrschenden Darwinismus umfasst.

Darwin begeistert zunächst die Kirche

Die diversen Kreationismen lassen sich nur historisch verstehen. Charles Darwins "Origin Of Species" hatte bei hohen Kirchenvertretern zunächst Begeisterung hervorgerufen. Um 1900 versteht sich die große Mehrheit der Universitätstheologen in den USA und in Großbritannien als Anhängerschaft Darwins. Vor allem im evangelikalen Protestantismus äußert eine Minderheit der Frommen aber lautstark Kritik. Seitdem werden die Religionsgeschichten der englischsprachigen Länder von immer neuen Wellen des Anti-Evolutionismus geprägt.

Eine erste weltweit beachtete Kreationismus-Debatte wird in den 1920er Jahren in den USA geführt. Für die aktuelle Diskussionslage ist die prononcierte Verwissenschaftlichung des Kreationismus seit 1960 entscheidend. Dieser sogenannte Scientific Creationism, der sich auf Außenseiterpositionen der frühen 1920er Jahre beruft, bricht mit den älteren Kreationismen.

Die meisten religiös motivierten Darwin-Kritiker im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hatten ein ganz altes Erdalter angenommen und waren davon ausgegangen, dass es schon vor dem biblischen Garten Eden auf der Erde Leben gegeben habe. Sie wollten sich an die Bibel halten und zugleich geologische und paläontologische Entdeckungen ernst nehmen. William Jennings Bryan, ein Vordenker des anti-evolutionistischen Kreuzzuges nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, las die mosaischen Schöpfungstage als Symbolisierung geologischer Zeiten.

Die Möglichkeit einer organischen Evolution wurde hier anerkannt, aber auch ein übernatürlicher Ursprung Adams und Evas behauptet. Für die Creation Scientists hingegen ist die Geschichte des Lebens auf der Erde weniger als 10.000 Jahre alt.

"New Catastrophism"

So behauptet George McCready Price, ein Sieben-Tage-Adventist, in seiner 1923 erschienenen "New Geology", Leben auf der Erde sei relativ jung. Die große Sintflut habe dann die gesamten Lebensumstände tiefgreifend verändert. Die meisten fossilen Nachweise für Evolution stammten aus der kurzen Zeit der Sintflut und der ihr folgenden Jahrhunderte. Dass McCready Price seine Position selbst als "New Catastrophism" charakterisiert, lässt eine intime Zeitgeistaffinität kreationistischer Theoriebildung erkennen.

Mit seiner Sintflutgeologie findet er nur in der eigenen Sekte Zustimmung und wird von der Mehrheit der Kreationisten bekämpft. Diese Gegner halten an einer religiös überformten Evolutionsbiologie als Leitdiskurs fest. McCready Price hingegen betont die Deutungsmacht der Geologie. Mit John C. Whitcombs Jr. und Henry M. Morris' "Genesis Flood" von 1961 und der Gründung der Creation Research Society 1963 setzt sich seine Glaubensgeologie im Kreationismusdiskurs als herrschende methodische Meinung durch.

Seit 1980 haben die Sintflut-Geologen den Kreationismusbegriff erfolgreich für sich besetzt. Sie argumentieren konsequent politisch. Lasse sich die Sintflut-Geologie wissenschaftlich erhärten, sei die evolutionistische Kosmologie der Darwinisten ins Unrecht gesetzt. Wer Evolution als ideologisches Konstrukt entlarve, zerstöre zugleich das kognitive Fundament antichristlicher Weltanschauungen wie Kommunismus, säkularer Humanismus und Libertinismus.

Anders als in Europa arbeiten in den USA eine ganze Reihe bedeutender Wissenschaftler für kreationistische Organisationen. Auch sind hier in den letzten zwanzig Jahren mehrere große Forschungsinstitute gegründet worden, allen voran das "Institute for Creation Research and Answers in Genesis" in Seattle.

In der liberalen amerikanischen Presse kann man lesen, dass jährlich etwa 400 Millionen Dollar in Creation Research fließen. Wie auch immer - das Spektrum der Positionen im kreationistischen Gegenwartsdiskurs weitet sich fortwährend aus. Die Unterschiede von Deutungsprogrammen wie "Kurzzeitkreationismus", "Langzeitkreationismus", "Evolutionistischer Kreationismus" und "Neokreationismus" mit "Intelligent Design", "Abrupt Appearance" und "Evidence against Evolution" verlangen selbst Experten erhebliche gedankliche Differenzierungsfähigkeit ab. Für ihr Bemühen um Verwissenschaftlichung zahlen die Kreationisten den Preis wachsender Spezialisierung und interner Polarisierung.

Arrogante Abwehr in Europa

Bei europäischen Intellektuellen lässt sich viel arrogante Abwehr des Kreationismus als eines Irrglaubens der unwissenschaftlich Bornierten beobachten. Geboten sind jedoch religionsanalytische Erklärungen seiner wachsenden Erfolge, auch bei Bildungsbürgern. Man muss bis ins späte 18. Jahrhundert zurückgehen. Ein frommes Leiden an Aufklärung, Verwissenschaftlichung der Welt und rein rationaler Lebensdeutung artikulieren schon die romantischen Protestbewegungen um 1800.

Religiöse Fundamentalkritik moderner Zweckrationalität gehört von vornherein zum Projekt der Moderne. Je mehr die schnelle soziale, kulturelle und wissenschaftlich-technische Modernisierung als krisenhaft und zerstörerisch erlitten wird, desto stärker gewinnt die Suche nach neuem festen Halt an Gewicht. Der Begriff "Fundamentalismus" taucht erstmals als programmatische Selbstbezeichnung in den USA des frühen 20. Jahrhunderts auf.

In der Schriftenreihe "The Fundamentals", vertrieben in drei Millionen Exemplaren, wollten konservativ evangelikale Protestanten bindende Glaubenswahrheit bezeugen. Gegen die innere Liberalisierung protestantischer Theologie und die radikale Individualisierung des Glaubens betonten sie unverzichtbare Wahrheiten des Glaubens, eben seine "Fundamentalien": die durch ihren Literalismus verbürgte Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift, die den unbedingten Geltungsanspruch der christlichen Weltsicht verbürge, und die Nichtigkeit aller Wissenschaft, die mit dem biblischen Weltbild nicht übereinstimme.

Hier stritt man gegen die historisch-kritische Bibelforschung, die man als Relativismus erlitt, und gegen die Naturwissenschaften, denen man methodischen Atheismus vorwarf. Während des Ersten Weltkriegs politisierte sich dieser protestantische Fundamentalismus; in den 1920er Jahren machte er in großem Stil mobil. Das provozierte eine liberale Oppositionsbewegung gegen jede religiöse, speziell fundamentalistische Intervention in Staatsangelegenheiten.

In entschiedener Politisierung setzten die amerikanischen Fundamentalisten seit den 1970er Jahren nun umgekehrt darauf, über die Grenzen des eigenen Milieus hinaus antiliberale Zweckbündnisse von Kräften zu schmieden, die die freiheitsdienliche Entkoppelung von Religion und Politik als Wertverlust und verunsichernden Relativismus erfuhren. Man hofft auf neue Ordnung, klare Werte, bindende Orientierung - und genau dazu wird der Schöpfungsbegriff besetzt. Das ist nicht Regression ins Mittelalter, sondern ein höchst moderner religionskultureller Habitus: moderne Antimodernität und immer neue Verschärfung von Kulturkämpfen.

Auch in wissenschaftshistorischen Perspektiven lassen sich die diversen Kreationismen als spezifisch moderne Reaktionsphänomene deuten, als Gegenbewegung zur im naturwissenschaftlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts beobachtbaren Tendenz, akademische Theoriebildung weltanschaulich zu universalisieren, also Wissenschaft selbst zu einer Sinnstiftungsinstanz zu erheben.

Kreationismus ist ein religiöser Gegenentwurf zu einem Wissenschaftsglauben, der Professoren zu Propheten stilisiert und durch besseres Erkennen Lebenssinn gewinnen will. Man muss nur Max Webers kantianische Polemik gegen solche wissenschaftliche Sinnhuberei ernst nehmen, um für Kreationisten partiell Verständnis aufbringen zu können: Sie setzen einer Naturwissenschaft, die sich als naturalistische "Weltanschauung" missversteht, nur eine andere moderne Ideologie entgegen, formuliert in religiösen Sprachspielen. So schreiben die Schöpfungsfundamentalisten, die unter dem modernen Pluralismus leiden, ihn nur auf ihre Weise fort.

Der Autor lehrt evangelische Theologie an der Universität München.

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