Schädlinge:Lausige Viecher

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Im 19. Jahrhundert schleppten Händler die Reblaus aus Amerika ein. Sie zerstörte Europas Weinbau. Auch heute bedrohen Pilze, Bakterien und Insekten die Landwirtschaft.

Von Walter Hönigsberger

Am Vormittag des 15. Juli 1868 bekam das Weingut des Marquis de Lagoy in der Nähe von St. Remy-en-Provence hohen Besuch. Die Herren mit Zylinder, trotz der Sommerhitze in schwarze Gehröcke gekleidet, waren aus Montpellier gekommen und repräsentierten "La Commission pour Combattre la Nouvelle Maladie de la Vigne". An ihrer Spitze stand Jules-Émile Planchon, Professor der Botanik an der Universität Montpellier. Bewaffnet waren sie mit Spaten und Lupen. Das Bild, das sich ihnen bot, war ein Desaster: verhärmte Weinstöcke, schlaffe Blätter, winzige Trauben, die wie Tränen an den Stöcken hingen, Rebstöcke, deren Wurzeln gleichsam Selbstmord begonnen hatten.

Die Kommission existierte seit einigen Wochen, die Katastrophe seit drei Jahren. Im Sommer 1865 starben erstmals in der Gegend von Avignon, St. Remy und Orange großflächig die Rebstöcke. Rasant war in den folgenden Jahren die Seuche vorangeschritten ins Rhônetal, in die Provence und bis hinunter ins Midi. Überall, so berichten Zeitgenossen, waren die Blätter kleinwüchsig, in sich gerollt, porös und faltig und von einer kranken Bräune. Anstelle von Trauben kümmerten runzelige Einzelgänger an den Pflanzen. Die Rebstöcke konnten mit der bloßen Hand aus dem Boden gerissen werden, die Wurzeln hingen in dünnen Fäden herab. Drei Jahre und drei Ernten dauerte die "Maladie de la Vigne" schon - und das Besondere an diesen Jahren war: Niemand wusste eine Erklärung, niemand ahnte auch nur, woher die tödliche Krankheit kam, was sie auslöste, wie sie sich ausbreitete, und niemand hatte infolgedessen ein wirksames Gegenmittel zur Hand.

Nicht, dass nicht viel versucht worden war: Der naturwissenschaftlich inspirierte Geist des Zeitalters rief die Chemiker auf den Plan. Man spritzte, was an Giften aufzutreiben war: Arsenik und Operment, Kupfer- und Quecksilbersalze, Schwefelkalzium, Carbolsäure, schwefelige Säure, Phosphor-Wasserstoffe, Schwefelkohlenstoff, Wacholderöl, Benzin, Naphtalin, Erdöl, Schiefer, Glycerin. Andere vertrauten auf althergebrachte Methoden: Einer, der den antiken Autor Plinius gelesen hatte, riet, Kröten in die Weinberge zu platzieren. Schwarze Rauchwolken verpesteten die Luft, sie rührten von verbranntem Rinderleder her, das als Düngung empfohlen worden war. Der Urin von Mensch und Tier wurde gesammelt und großflächig in die betroffenen Gebiete injiziert. Nichts half.

Das Klima, das Wetter, erschöpfte Böden wurden als mögliche Ursachen genannt, Kulturpessimisten beschworen das Menetekel eines degenerierten Europas. Weil die Ursache im Dunkeln blieb, war die Bekämpfung ein einziger Akt der Verzweiflung. Jahrelang zeugte das Nichtwissen Hilflosigkeit, die Hilflosigkeit das Entsetzen und vielerorts die blanke Not. Im Rhônetal, im Languedoc und im Roussillon sank die Weinerzeugung auf ein Viertel des Stands von 1860. Viele Winzer gaben auf, verkauften ihre Stöcke als Brennmaterial und züchteten forthin Rüben.

Es war der Zufall, der die Inspizienten an jenem Mittwoch im Juli 1868 auf die richtige Spur führte. Und Planchons Lupe. Einer seiner Mitarbeiter hatte ganz gegen die Gewohnheit am Rande des zerstörten Areals einen gesunden Rebstock ausgegraben. Was dem bloßen Auge wie Klumpen an den Wurzeln der sonst gesunden Pflanze erschien, entpuppte sich unter dem Vergrößerungsglas als Myriaden Läuse. Allesamt flügellos, allesamt gefräßig. Mit Blick auf die benachbarten, schon zerstörten Stöcke bemerkte der Marquis de Lagoy: "Fürchterlich. Sie rücken vor wie eine Armee." Wie eine Armee des Todes, könnte man aus heutiger Sicht hinzufügen.

Innerhalb einer Saison kann eine einzige Wurzelreblaus 64 Millionen Nachkommen haben

Der Rest war Wissenschaft des 19. Jahrhunderts mit Mikroskop, Reagenzglas, Experiment, Beobachtung und Kombinationsgabe. Ein Mitarbeiter Planchons, Jules Liechtenstein, erinnerte sich, dass 1856 der amerikanische Entomologe Asa Fitch ein ähnliches Tier beschrieben hatte, das an den Blättern amerikanischer Weinreben Wucherungen, sogenannte Gallen, hervorbrachte. Planchon hatte die Wurzelreblaus entdeckt, Fitch die Blattreblaus. Aus beider Entdeckungen ließen sich zwei fundamentale Erkenntnisse gewinnen: Der komplizierte, ober- und unterirdische, krabbelnde und fliegende, ein- und zweigeschlechtliche Lebenszyklus der Laus und - womöglich noch wichtiger - ihre Herkunft. Bald wurde klar, dass eine Invasionsarmee eingefallen war, herangebildet auf dem amerikanischen Kontinent, eingefallen durch die weit geöffneten Tore Europas in den 1860er-Jahren.

Die Invasion der Wurzelreblaus brachte den europäischen Weinbau an den Rand des Kollaps. Heute können die Vorgänge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Blaupause dafür gelesen werden, wie Wissenschaft, Landwirtschaft und Öffentlichkeit reagieren, wenn ein neuer, bis dahin unbekannter Schädling wichtige Kulturpflanzen angreift. Denn das geschieht mit frappierender Regelmäßigkeit. Im Süden Italiens zerstört gerade ein Bakterium, das ursprünglich aus Costa Rica stammt, Tausende Olivenbäume. Im Zuge der Globalisierung breiten sich Pilzschädlinge aus, die Kaffee- und Bananenernten weltweit bedrohen. Neue resistente Schwarzrostvarianten verfügen über das Potenzial, Weizenfelder auf der ganzen Erde zu vernichten. Das Drehbuch des jeweiligen Dramas ähnelt oft der Dramaturgie der Reblauskrise: Es dauert, bis der Schädling identifiziert ist; es bricht Streit über geeignete Gegenmaßnahmen aus, der nicht selten in kulturkritischen Diskursen über eine aus dem Ruder gelaufene Landwirtschaft und die Globalisierung mündet. Und - hoffentlich - irgendwann, wenn ein Gegenmittel identifiziert ist, ebbt die Aufregung wieder ab, so wie in der Reblauskatastrophe, dem Prototyp moderner Schädlingskrisen.

Amerikanische Reben hatten damals Konjunktur in Europa. Vor allem im Midi, wo Qualität noch nie eine große Rolle gespielt hatte, versprach man sich höhere Erträge durch die schnell und üppig wachsenden Amerikaner-Sorten. Dampfschiffe überquerten den Atlantik in weniger als zehn Tagen, schnell genug, um einer Menge begehrter und einer Unmenge unerwünschter Lebewesen das Überleben auf See zu ermöglichen. Und dann war da noch die Erfindung des Nathaniel Bagshaw Ward. Der nach ihm benannten "Ward-Case", ein Glasballon, versorgte Pflanzen mit ausreichend CO₂ und schützte sie vor Seewasser, Wind und Regengüssen. Die Invasionsarmee reiste komfortabel und unerkannt an den Wurzeln und Blättern amerikanischer Weinstöcke nach Europa ein.

Einmal angekommen entfaltete die Reblaus zerstörerische Wucht. Eine Laus im Erdreich legt etwa 20 bis 50 Eier, je nach Boden, Klima, Nahrungsangebot. Aus diesen Eiern schlüpfen ungeschlechtlich neue Läuse und dies wiederholt sich pro Wärmeperiode etwa fünf bis sechs Mal. Macht pro Saison mindestens 64 Millionen Nachkommen einer einzigen Laus.

Ab und an entwickelt eines der Tierchen Flügel, krabbelt nach oben und fliegt davon - die mobilen Einsatzkommandos der Invasoren. Sie verbreiten die Art über weite Flächen und befördern neue Infektionsherde. Die fliegenden Nymphen tragen unterschiedlich große Eier, aus denen männliche und weibliche Tiere schlüpfen. Das begattete Weibchen bildet ein einziges Ei, aus dem im Frühjahr hundert gleichartige Individuen schlüpfen, die zu den Wurzeln hinabsteigen und sich dort ungeschlechtlich vermehren. Eine einzige Nymphe entschwebt also mit dem grob gerechneten Jahrespotenzial von 20 Milliarden Läusen. Und ein Infektionsherd bringt pro Saison einige Tausend Nymphen hervor. Unter der Erde beträgt der Aktionsradius der Rebläuse nur wenige Meter, eine Nymphe schafft hingegen einige Kilometer - bei günstigen Windverhältnissen auch weitaus mehr.

Mit Planchons Entdeckung von 1868 begann ein Wettrennen zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und einem hungrigen Milliardenheer, das Europas Weinbau zerstörte. 1869 wurden die ersten Fälle in der Nähe von Bordeaux gemeldet, wenig später waren Burgund, die Loire und Cognac befallen. 1872 waren Portugal, Österreich und die Schweiz an der Reihe, 1874 Spanien und Deutschland, 1879 als letztes wichtiges Erzeugerland Italien. Planchon und seine Mitstreiter, allen voran der amerikanische Entomologe Charles Riley, brauchten ihrerseits Jahre, um den Lebenszyklus der Laus zu entschlüsseln, deren Herkunft zu identifizieren und wirksame Abwehrmaßnahmen zu entwickeln.

Den betroffenen Winzern und dem französischen Staat ging das zu langsam. Mit Burgund und dem Bordelais hatte die Laus einen der empfindlichsten Nerven der Grande Nation getroffen. Nicht mehr der Arme-Schlucker-Wein des Südens war betroffen, sondern die Ehre und Größe Frankreichs. Acht Millionen Franzosen lebten vom Wein, ein Drittel des nationalen Einkommens stammte aus seiner Produktion. 1874 waren von 2,2 Mio Hektar Rebland 400 000 Hektar zerstört, weitere 300 000 infiziert, der Rest stand unter Verdacht.

Das Kohlenstoffsulfid tötete die Rebläuse - aber auch Rebstöcke und Arbeiter

Frankreich beschloss die Reblaus für immer unschädlich zu machen. Eine Methode, die rabiateste, war Tod durch Ersäufen. Hunderte und Aberhunderte Hektar der französischen Weingärten wurden unter Wasser gesetzt. Das funktionierte sogar, jedoch nur in der Ebene. Sandige Böden, so stellte sich heraus, waren schweres Geläuf für das Fortkommen der Laus, die Ausweitung des Weinbaus in Südfrankreich bis nah an die Küstenlinie zeugt noch heute von dieser Strategie. Eine weiteres Mittel war Schwefelkohlenstoff, der mit aufwendigen Spritzenapparaturen unter die Erde gebracht wurde, aber die Beschaffung der Substanz und der Geräte sowie die Bezahlung der Arbeitskräfte waren nur für große Erzeuger bezahlbar. Abgesehen davon, dass mit der Laus auch oft die Reben zerstört wurden und aufgrund der leichten Entflammbarkeit des Kohlenstoffsulfids zahlreiche Arbeiter starben.

Planchons Strategie war hingegen weniger martialisch. "Wenn wir nicht ohne Reblaus Wein produzieren können, dann müssen wir es mit ihr tun." Der Schlüssel für die Rettung lag in Amerika. 1859 hatte Charles Darwin "Die Entstehung der Arten veröffentlicht". Die Evolutionsbiologie entwickelte sich zum neuen Star am Wissenschaftshimmel und machte der Chemie im späten 19. Jahrhundert die Rolle als Leitwissenschaft streitig. Ihre Gesetze von Anpassung und Auslese lieferten die Erklärung, warum die amerikanischen Arten des Weinstocks resistent gegen die Laus waren. Die alten halbwilden und wilden Arten des Weins in Amerika lebten seit Jahrtausenden in Symbiose mit der kleinen Laus, hatten eine dichtere Wurzeltextur herausgebildet, die Verletzungen durch Herausbildung einer Art Korkschicht abdichten konnten, und waren, wenn nicht immun, so doch weitgehend resistent gegen deren Wurzelgefräßigkeit. Die hochkultivierten Rebsorten Europas hingegen mit ihrer andersartigen Wurzelstruktur erlagen den Angriffen der Fresser.

Einer, der dies bereits früh erkannt hatte, war ein Weinkenner und Weinerzeuger aus Summerfield im US-Bundesstaat Illinois. Sein Name war Friedrich Hecker. Im April 1875 schrieb er an Adolph Blankenhorn, den Präsidenten des Deutschen Weinbau-Vereins: "Ich bin überzeugt, dass, wenn diese Pest nicht von selbst wieder drüben ausstirbt, man in Europa keine andere Wahl haben wird, als die hiesigen kraftvollen, den Verwüstungen des Insekts Widerstand leistenden Rebsorten einzuführen und dass in einem Menschenalter die amerikanischen feinen Rebsorten eure Weinberge füllen werden, weil sie eben eine Vitalität und Widerstandskraft gegen klimatische und andere schädlichen Einflüsse besitzen, die der Vitis vinifera der alten Welt abgehen."

Der ehemalige Revolutionär von 1848, Anführer der badischen Radikaldemokraten und Abgeordneter im Frankfurter Vorparlament, war gewissermaßen Spezialist für das Abgelebte der Alten und das Vitale der Neuen Welt. In den Vereinigten Staaten hatte er nach dem Scheitern in Deutschland eine Heimat gefunden, war im Brotberuf Bauer geworden, pflanzte Obst und Getreide und experimentierte im Weinbau. Als Badener schätzte er Wein, musste aber feststellen, dass die importierten Reben aus Europa in der ganzen Weite des Landes vom Atlantik bis an die Rocky Mountains keine Überlebenschance hatten.

Generationen von Siedlern hatten die Vitis vinifera aus den europäischen Weingegenden in ihre neue Heimat gebracht. William Penn war damit in den Anfängen des 17. Jahrhunderts in Pennsylvania gescheitert. Thomas Jefferson, Botschafter der Union in Paris während der Revolutionszeit und später Präsident der Vereinigten Staaten, war einer der letzten gewesen, der den Atlantik nicht nur mit Kisten französischen Weins, sondern auch mit europäischen Rebschößlingen von Ost nach West überquert hatte. Keine der Reben hatte überlebt, alle siechten aus unerklärlichen Gründen dahin. Jetzt war das Rätsel gelöst. Die europäischen Reben hatten keine Chance gegen die Reblaus.

Was Friedrich Hecker prophezeit hatte, trat ein. Amerikanische Reben wurden in großem Stil nach Europa eingeführt: Von 1874 bis 1877 steigerte sich die Menge von 500 000 auf 40 Millionen Stöcke. Es gab da nur ein Problem: Wein von Amerikanerreben war schwer genießbar. "Foxy" nannten die feineren Nasen den modrig-dumpfen Beigeschmack, "Katzenpisse" war der Ausdruck auf gut deutsch dafür. Friedrich Hecker sah das differenzierter: Für ihn war vor allem die Clinton-Traube ein "herber Stinker", während Sorten aus den Vitis- riparia- und Vitis-labrusca-Familien trinkbare Ergebnisse erzielen konnte.

Ein Glaubenskrieg begann. Planchon hatte sich auf einer Reise in die USA überzeugt, dass Amerikanerreben, besonders die Sorten der Vitis riparia, akzeptable Weine hervorbrachten. Der Markt für niedrigpreisige Weine bestätigte ihn, die Produktion in Südfrankreich begann sich mit amerikanischer Hilfe zu erholen. Doch Paris und das Frankreich der gehobenen Klassen empörten sich. So sah sich Jules-Émile Planchon unversehens parallel zu seinem Wettlauf mit der Laus in einen ebenso aufreibenden Kampf verwickelt, einen Klassenkampf der ganz eigenen Art: "Les sulfinistes" gegen "Les americaines", Chemie gegen Biologie, die reichen Grand-Cru-Erzeuger gegen die armen Massenproduzenten des Südens, Paris gegen die Provinz und nicht zuletzt: die alte gegen die neue Welt.

Der Streit dauerte Jahre. Erst Leo Laliman bahnte eine Entscheidung an. Dieser war zu Zeiten des Bürgerkönigs Louis-Philippe Kavallerie-Offizier gewesen und betrieb seit 1840 das Weingut "La Touratte" in der Nähe von Floirac im Bordelais. Laliman war Experimentator - und Liebhaber amerikanischer Weinreben. Jahrelang importierte er Reben, probierte dies, kultivierte jenes mit dem Ergebnis, dass 1869 die von Laliman eingeschleppten Rebläuse das Weingut seines Nachbarn Dr. Chaigneau, die Domaine Gravette, infiziert und zerstört hatten. Der erste Fall im Bordelais und das Einfallstor für die Reblaus in die berühmteste Weingegend der Welt.

Im gleichen Jahr 1869 präsentierte Leo Laliman allerdings auf dem Kongress der Französischen Gesellschaft für Agrikultur in Beaune das Ergebnis eines seiner Experimente: Auf amerikanische Wurzelstöcke hatte er europäische Edelreiser gepfropft. Widerstandsfähigkeit von unten also, Geschmack, Fülle, Sortenspezifik von oben, das war die Idee. Die aufgepfropfte Edelrebe behält ihre genetischen Eigenschaften und ihren eigenen biologischen Rhythmus, der Wurzelstock sorgt nur für ihre Versorgung mit Nährstoffen, einer Amme vergleichbar. 1877 forderte er von der Kommission, die noch unter Napoleon III. mit Louis Pasteur an der Spitze eingesetzt worden war, den Preis von 300 000 Francs für die beste Idee gegen die Reblaus. Das Geld wurde ihm nicht gewährt.

Doch Lalimans Methode setzte sich durch. Auch Planchon und der Großteil der wissenschaftlichen Welt schwenkten von der reinen auf die kombinierte Amerikaner-Methode um. Auf dem Phylloxera Kongress in Bordeaux 1881 wurde das Pfropfen und damit "Les americaines" zum Sieger erklärt, die chemische Behandlung der Weinberge war fortan eine begleitende Maßnahme. Paris hatte ein Einsehen: Kleinen Winzern wurden die neuen Pfropfreben kostenlos zur Verfügung gestellt, die Grundsteuern für mehrere Jahre erlassen. Nach und nach ersetzte Frankreich seine Reblagen durch amerikanisch-europäische Bastarde, Europa folgte. In Bordeaux und Burgund dauerte es bis in die 1890er-Jahre, bis die Rekonstruktion der Edellagen mit gepfropften Reben vollzogen war. Heute sind beispielsweise 97 Prozent der deutschen Weinbaugebiete mit Pfropfreben bestückt. Brüssel und das Pflanzenschutzgesetzt sorgen dafür, dass bei Neuanpflanzungen keine wurzelechten Europäerreben eingesetzt werden. Denn die Reblaus ist noch immer da, sie vermehrt sich, sie ernährt sich, es geht ihr gut. Nur Schäden richtet sie heutzutage kaum mehr an. Außer in Kalifornien. Ausgerechnet.

Vom Rest des nordamerikanischen Kontinents ist Kalifornien durch eine mächtige Felsbarriere getrennt - die Rocky Mountains. Auf natürlichem Wege und aus eigener Kraft konnte die Reblaus in die Landstriche am Pazifik nie vordringen, weshalb Kalifornien lange Wein erzeugen konnte, den einst die Spanier ins Land gebracht hatten. Ende des 19. Jahrhunderts war es damit vorbei: Der Mensch brachte die Reblaus in die wehrlosen Weingärten, und der einzige europäische Wein auf amerikanischem Boden teilte das Schicksal seiner Artgenossen auf dem alten Kontinent. Auch die Rekonstruktion folgte europäischem Beispiel, die neuen, resistenten Wurzelstöcke kamen dabei pikanterweise bereits aus französischen Rebschulen.

Kalifornien erholte sich - und brach in der Prohibitionszeit erneut zusammen. Danach aber herrschte einmal mehr Goldgräberstimmung im Sonnenstaat, die Weinerzeugung an der Westküste versprach satte Erträge und sie wurde befeuert durch eine neue Geheimwaffe namens AxR1, eine Wurzelrebe nach kalifornischem Geschmack: schnell wachsend, effektiv, ertragreich und pflegeleicht. Mondavi, Gallo, das ganze Napa Valley erlebte in den 1960er- und 1970er-Jahren einen Wein-Boom. Ein Boom jedoch mit eingebauter Zeitbombe. Die Hybridwurzel AxR1 war den europäischen Arten zu ähnlich. Die Reblaus passte sich binnen kurzer Zeit perfekt an diese Pflanzen an. 1983 traten die ersten Zerstörungen zutage, Anfang der 1990er-Jahre brach die kalifornische Weinproduktion ein, Tausende Hektar der besten und teuersten Weinlagen der Welt benötigten neue Unterlagsreben. Schätzungen besagen, dass dieser zweite Austausch der Wurzelreben in Kalifornien eine Milliarde Dollar gekostet hat.

Zurück nach Europa, zurück ins 19 . Jahrhundert. Die lange Dauer der Reblaus-Krise kann nicht verwundern. Von den französischen Winzern und später von ihren Kollegen in ganz Europa wurde nicht mehr und nicht weniger verlangt, als sich der uralten Grundlagen ihrer Tätigkeit, der traditionsreichen Quellen ihrer Einkommen zu entledigen und einen Neustart ins Ungewisse zu wagen. Es war die Angst vor der vollständigen Vernichtung des europäischen Weines, die jahrzehntelang die Köpfe beherrschte. Um 1900 vermutete man, dass die Anbaugebiete Frankreichs zu 100 Prozent verseucht waren.

Die Alternative jedoch, die Rettung aus Amerika, war nicht weniger furchterregend und für die Zeitgenossen ein gar nicht hoch genug zu veranschlagender Kultur- und Mentalitätsschock: Der europäische Wein würde aufhören, in seiner ursprünglichen Form zu existieren. Von Chimären war damals die Rede, von Zentauren, Zwitterwesen und Bastarden, deren Charakter und Identität im Ungefähren lagen. Was damals apokalyptische Ängste auslöste, ist heute eine gern verdrängte Realität: Die Vitis vinifera der alten Welt, über Jahrhunderte kultiviert, Jahrtausende alt, eine der bedeutendsten Kulturleistungen Europas, geht seit der Reblaus-Katastrophe buchstäblich am Stock: Am Wurzelstock jener widerstandskräftigen Reben aus der neuen Welt - ohne die es heute in Europa keinen Wein mehr geben würde.

© SZ vom 16.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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