Psychologie:Die Macht des Klischees

"Kognitiver Geiz": Um sich das Denken zu sparen, greifen Menschen zu Vorurteilen. Noch der dümmste Blondinenwitz brennt sich tief ins Gehirn ein.

Nikolas Westerhoff

Blondinen sind nicht alle dumm, es macht nur Spaß, die Witze zu erzählen, mag sich manch einer denken. Aber oft genug erzählt, brennen sich solche Vorurteile dann doch tief ins Gehirn ein. Sie bestimmen unser Denken, auch wenn sie dabei äußerst diskret vorgehen.

Scalett Johansson, AFP

Kann so eine Frau klug sein? Bei solchen Gesichtern entfalten Vorurteile ihre Macht. Fans jedenfalls sagen Scalett Johannsson einen hohen IQ nach. Das könnte allerdings auch ein Mythos sein.

(Foto: Foto: AFP)

Ihr Auftrag ist es, die Welt in simple Kategorien zu unterteilen - in Gut und Böse, schön und hässlich, anziehend und abstoßend. Vorurteile machen das Unüberschaubare überschaubar. "Menschen sind kognitive Geizhälse", sagt der Psychologe Christian Fichter von der Universität Zürich. Vorurteile ersparten ihnen Denkarbeit. Sie erlaubten es, sich schnell ein Bild zu machen. Das habe sich im Laufe der Evolution durchaus als Vorteil erwiesen.

Die Nachteile aber lassen nicht lange auf sich warten: Vorurteile führen allzu oft in die Irre. Fichter hat ein und denselben Artikel über Mobilfunkanbieter in zwei verschiedenen Zeitungen platziert: in dem Boulevardblatt Blick und in der Qualitätszeitung Neue Zürcher Zeitung (NZZ). Der NZZ-Beitrag sei wesentlich besser als derselbe Artikel in Blick, meinten Testleser einhellig. "Das Image zählt eben mehr als der Inhalt", sagt Fichter. Und geübte Zeitungsleser ließen sich ebenso von ihren Vorurteilen leiten wie Lesemuffel.

Nicht nur Produkte haben ein Image, sondern auch Menschen. Amerikanische Unternehmer sind an einem Bewerber erheblich stärker interessiert, wenn er einen Durchschnittsnamen wie Greg hat, fand die Ökonomin Marianne Bertrand von der University of Chicago heraus, indem sie Bewerbungsmappen an verschiedene Arbeitgeber versendete, in denen sie lediglich den Namen des Bewerbers austauschte. Wählte sie ausländisch anmutende Namen wie Lakisha oder Jamal, hagelte es Absagen.

Der bloße Name genügt, und schon glauben wir zu wissen, was für ein Mensch sich dahinter verbirgt. Das gilt auch für Namen, die alle demselben kulturellen Hintergrund entspringen. Wie attraktiv sind Anna, Johanna und Horst?, fragte der Sozialpsychologe Udo Rudolph von der Technischen Universität Chemnitz. Anna kam dabei meist gut weg, Horst galt dagegen meist als unattraktiver Gesell.

Klischees und Emotionen

Hintergrund ist offenbar eine automatisch ablaufende Vorurteilskaskade: Zunächst beurteilten die Befragten, ob die Namen in ihren Ohren altmodisch, zeitlos oder modern klangen. Daraus leiteten sie dann das vermeintliche Alter der Personen ab und zogen daraus wiederum Rückschlüsse auf deren Attraktivität. Hier haben die Befragten also gleich drei Vorurteile aneinandergereiht.

Schule, dpa

Sagt man Mädchen, dass sie schlecht in Mathematik seien, leiden ihre Leistungen tatsächlich.

(Foto: Foto: dpa)

Aber woher kommen die vermeintlichen Weisheiten, die wir dabei benutzen? Wem von klein auf immer wieder gesagt wird, er solle nicht wie ein Bauer essen, der assoziiert "Bauer" irgendwann mit "grob" und "unzivilisiert". Solche gedanklichen Automatismen lassen sich später nur schwer durchbrechen, wie die Psychologin Patricia Devine von der University of Wisconsin in zahlreichen Experimenten nachwies.

Allerdings seien die gedanklichen Verknüpfungen, so ärgerlich sie auch sein mögen, gar nicht das eigentliche Problem, so Devine. Niemand müsse sich für sie rechtfertigen. Entscheidend sei jedoch, ob Menschen sich dieser Assoziationen bewusst seien und sich ihrer schämten. Ohne ein Gefühl von Schuld oder Scham ließen sich Vorurteile nicht aufbrechen.

Doch auch mit Schuld und Scham gelingt es nicht immer, Vorurteile wieder loszuwerden. In seinem Buch "Kleine Einführung in das Schubladendenken" berichtet der Sozialpsychologe Jens Förster von einem Kollegen, der offen zugibt, sich vor Sex zwischen Männern zu ekeln. Zwar schäme er sich dafür, doch befreien könne er sich von dem Gefühl des Ekels nicht.

Dieses Beispiel illustriert, dass Vorurteile mehr sind als irrige Ansichten oder falsche Meinungen. Anders als stereotype Einstellungen ("Afrikaner können schneller laufen als Europäer") weisen Vorurteile eine starke emotionale Tönung auf. Sie lassen uns nicht kalt, sondern lösen in uns Ekel, Angst oder Verachtung aus.

Und just diese Gefühle sind es, die das Vorurteil als etwas Legitimes erscheinen lassen, schließlich gelten Emotionen gemeinhin als echt und authentisch. Wer käme schon auf die Idee, seine Gefühle zu hinterfragen oder sie als falsch und rückständig zu geißeln?

Ohne kollektiv gelerntes Wissen gäbe es keine emotionsgeladenen Vorurteile. So weiß jedes Kind, dass Schwaben für geizig gehalten werden. Doch woher dieses Klischee stammt, können die wenigsten sagen. Französische Vokabeln lernt man willentlich; Vorurteile hingegen unwillentlich, quasi en passant.

"Ein unmittelbares Haarsträuben, eine spontane Gänsehaut kann man nicht so leicht bekämpfen, sie sind einfach da", meint Förster. "Sagen Sie mal jemandem mit Spinnenangst, dass Spinnen sehr nützliche Tiere sind. Selbst wenn er das einsieht, wird er nicht freudestrahlend den Rücken einer dicken, haarigen Spinne massieren." Vorurteile sind ein Mix aus Gefühlen und Überzeugungen. Das macht sie so zäh und langlebig. "Es ist schwieriger, Vorurteile zu zertrümmern als Atome", befand schon Albert Einstein.

Blitzschnelle Entscheidungen verraten Vorurteile

Eine Zeitlang hatten Psychologen die Hoffnung, Vorurteile zerstören zu können, indem sie Menschen mit der bunten Vielfalt der Wirklichkeit konfrontieren. Hält ein Mann Frauen für mathematisch unbegabt, dann müsse man ihm einfach eine Frau vorstellen, die gut rechnen kann, so die Logik.

Doch leider funktioniere das nicht, sagt die Sozialpsychologin Maya Machunsky von der Universität Jena. Informationen, die mit den eigenen Vorurteilen nicht übereinstimmen, spaltet ein solcher Mann einfach ab. Eine mathematisch begabte Frau sieht er als untypisch für die Kategorie Frau an. Stattdessen erfindet er eine neue Schublade, etwa die der "Mannweiber". Diesen mittlerweile gut erforschten Mechanismus nennen Psychologen Substereotypisierung.

Wie subtil und stark Vorurteile wirken, hat der Psychologe John Bargh von der Yale University nachgewiesen. Er ließ seine Probanden klischeehafte Aussagen über alte Menschen lesen, etwa den Satz "Alte Menschen haben graue Haare". Das bloße Lesen solcher Altersstereotypien veränderte die Probanden: Sie bewegten sich nach dem Experiment langsamer in Richtung Aufzug.

Wer glaubt, von solchen Mechanismen frei zu sein, der muss nur einmal einen Impliziten Assoziationstest (IAT) absolvieren, wie ihn die Psychologen Anthony Greenwald und Mahzarin Banaji vor zehn Jahren entwickelt haben. Ganz gleich, ob es um negative Einstellungen gegenüber homosexuellen, alten oder schwarzen Menschen geht - der Test offenbart seinen Machern zufolge alle unausgesprochenen und tabuisierten Vorbehalte in Sekundenschnelle. Die Logik dahinter ist: Je mehr Zeit ein Mensch benötigt, positive Begriffe wie Glück oder Sonne mit dem Gesicht eines Schwarzen, Schwulen oder Greises zu kombinieren, desto negativer bewertet er die entsprechende Eigenschaft.

Das Gehirn aktiviert die Klischeevorstellungen ohne unser Zutun. Und oft genug auch gegen unseren Willen. In solchen Reaktionstests zeigte sich immer wieder: Auch manch alter Mensch hat Vorbehalte gegen Alte. Auch einigen Schwarzen fällt es schwer, positive Begriffe mit dem Gesicht eines Schwarzen zu kombinieren. Implizit gemessene und offen geäußerte Vorurteile können Hand in Hand gehen, sie müssen es aber nicht. Das zeigt auch eindrucksvoll ein Experiment der Sozialpsychologen Joshua Correll von der University of Chicago und Bernadette Park von der Colorado University.

Verborgener Rassismus

Auf einem Bildschirm sind in stetem Wechsel schwarze und weiße Männer zu sehen. Manche von ihnen halten eine Waffe in der Hand, andere ein Handy. "Erschieße die gefährlichen Männer mit der Pistole und lass die unbewaffneten am Leben." So lautet der Auftrag in diesem Computerspiel. Die Probanden müssen in Sekundenschnelle entscheiden: Ist der gerade eingeblendete Mann bewaffnet oder nicht? Von dieser Einschätzung hängt es ab, ob sie sich fürs Schießen oder fürs Nicht-Schießen entscheiden.

Die Versuchspersonen erschossen häufiger unbewaffnete schwarze als unbewaffnete weiße Männer. Offenbar assoziierten sie die Hautfarbe eines dunkelhäutigen Menschen automatisch mit Gefahr und Kriminalität. Dieser Effekt trat bei allen Versuchspersonen gleichermaßen auf. Auch Vertreter ethnischer Minderheiten erschossen eher unbewaffnete Schwarze als unbewaffnete Weiße. Da es sich um blitzschnelle Entscheidungen handelt, sind die Probanden ihren vorurteilsbehafteten Denkprozessen mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert. Sie handeln also rassistisch, ohne sich darüber im Klaren zu sein und ohne es richtig zu finden.

Vorurteile wirken sich sogar auf das Selbstverständnis aus. "Rechnet ein Mensch damit, dass andere ihm Vorurteile entgegenbringen, dann fühlt er sich bedroht", sagt der Sozialpsychologe Johannes Keller von der Universität Mannheim. Dieses Gefühl blockiere ihn.

Zahlreiche Studien des Psychologen Claude Steele von der Stanford University sind hierfür ein Beleg: So schnitten Studentinnen in einem Mathematiktest schlechter ab, wenn ihnen zuvor gesagt wurde, dass Frauen mathematisch weniger begabt seien als Männer. Die bloße Erwähnung dieses Vorurteils verschlechterte ihre Leistungen erheblich - gleichgültig, ob die Frauen das Vorurteil selbst absurd fanden oder nicht. Und es genügte sogar, wenn sie auf der ersten Seite nur ihr Geschlecht ankreuzen mussten.

Vorurteile sind demnach alles andere als witzig. Sie sind nicht einmal harmlos. Ihnen ist eine Erwartung eingeschrieben, der sich Menschen - wider Willen - unterwerfen.

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