Psychiatrie:Dame in Schwarz

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Warum hat die Evolution den Menschen eigentlich noch nicht von der Depression befreit? Wissenschaftler vermuten, dass diese psychische Erkrankung auch positive Seiten haben kann.

Von Christian Weber

Wie seltsam, nun gibt es Homo sapiens schon seit 200 000 Jahren, und dennoch werden immer noch sehr viele Menschen jedes Jahr depressiv. Wieso eigentlich hat die Evolution diese psychische Störung nicht einfach abgeschafft? Denn wenn man in schwarzer Stimmung in der Ecke sitzt, steigert das vermutlich nicht den Reproduktionserfolg.

Ein möglicher Grund für dieses Paradox könnte sein, dass auch im psychischen Bereich die biologische Evolution nicht Schritt halten kann mit der gesellschaftlichen Entwicklung: Demnach wäre die in Jäger-und-Sammlergesellschaften evolvierte menschliche Seele einfach nicht optimiert für die Vielzahl an Sozialkontakten und anstrengenden Beziehungsformen der Moderne; sie gerät unter chronischen Stress und fällt zumindest bei manchen Menschen schließlich in die Depression.

Einige Forscher hingegen spekulieren, dass die affektive Störung auch einen Selektionsvorteil gebracht hat: Das dauernde Grübeln helfe bei der Entscheidungsfindung, die Antriebslosigkeit schütze vor überriskantem Verhalten, die Traurigkeit führe zu Hilfsbereitschaft bei nahestehenden Menschen. Eine gewisse Unzufriedenheit könne Menschen antreiben, notwendige biografische Änderungen in ihrem Leben anzugehen und überhaupt aktiv zu werden: Wer immer nur heiter und genügsam am Seeufer sitzt, wird nie etwas bewegen. Die Depression sei demnach nur die pathologische Ausprägung einer - zumindest in Maßen - sinnvollen Disposition.

Würde das stimmen, ergäben sich womöglich auch Konsequenzen für die Therapie, sagen manche Psychiater. Es sei vielleicht nicht immer nur sinnvoll, alle Symptome so schnell wie möglich mit Psychotherapie und Medikamenten wegzutherapieren. Experten, die diese Ansicht vertreten, zitieren gerne Carl Gustav Jung: "Die Depression ist gleich einer Dame in Schwarz", soll der Zürcher Psychoanalytiker einmal gesagt haben. "Tritt sie auf, so weise sie nicht weg, sondern bitte sie als Gast zu Tisch und höre, was sie zu sagen hat."

© SZ vom 31.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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