Neudefinition des Kilogramms:Ur-Kilo hat ausgedient

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Auf einer nahezu perfekten Siliziumkugel zählen Forscher die Atome, um das Kilogramm neu zu definieren (Foto: PTB)
  • Forscher wollen mithilfe von Kristallkugeln aus Silizium das Kilogramm neu definieren. Bislang ist das Urkilogramm in Paris Grundlage für die Einheit.
  • Die neue Definition des Kilogramms soll auf einer Naturkonstante beruhen.
  • Am Gewicht des Kilogramms selbst soll sich nichts ändern, Waagen müssen also nicht neu geeicht werden.

Von Christopher Schrader

Die perfektesten Kristallkugeln der Welt sollen es werden. Vier Stück, auf Hochglanz poliert, so rund wie kein anderes Objekt, das je von Menschen geschaffen wurde. Mit diesen Kugeln aus Silizium wollen Wissenschaftler der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig neu definieren, wie schwer ein Kilogramm ist. Die Kristallbälle sollen bei einem Durchmesser von etwa zehn Zentimetern um weniger als 100 Millionstel Millimeter von der Kugelform abweichen. Ob das genau ist, hängt vom Standpunkt des Betrachters ab: "Auf der Skala, auf der wir messen, gleichen die Körper eher Kartoffeln", sagt Arnold Nicolaus von der PTB.

Immerhin muss am Ende der Bemühungen keine Waage der Welt neu geeicht werden - und auch das Pfund Butter bleibt, wie es war. Was ein Kilogramm eigentlich ist, soll nur anders als bisher definiert werden: nicht mehr durch den Vergleich mit dem berühmten Urkilogramm, das bis heute in Paris verwahrt wird, sondern auf der Basis physikalischer Naturkonstanten, die überall auf der Welt messbar sind.

Eine Million Punkte auf der Siliziumkugel werden präzise vermessen

In dieser Woche kommen die Wissenschaftler von der PTB ihrem Ziel einen wichtigen Schritt näher. Am Donnerstag präsentierten sie einen Siliziumkristall, der etwa die Form einer Magnumflasche Champagner hat. Ein Institut in Berlin hat ihn aus Material gefertigt, das Spezialisten in Russland aufbereitet hatten. Daraus wollen die Braunschweiger nun zwei der besagten Kugeln herstellen, zwei weitere sollen folgen. Diese sollen dann vermessen werden, um ihre Größe, ihren inneren Aufbau und ihre Masse zu bestimmen. "Wir wollen zählen, wie viele Atome die Kugel hat und wie viel Masse jedes einzelne Atom hat", sagt der Leiter des Teams, Horst Bettin. "Bisher verzählen wir uns noch um zwei Atome pro hundert Millionen. Mit den neuen Kugeln wollen wir auf einen Fehler pro Hundert Millionen Atome kommen."

Das Programm läuft bei der PTB schon seit 20 Jahren. Bisher hatte sich die Behörde dabei zum großen Teil auf externe Partner verlassen: Der Prototyp für die Kugeln wurde zum Beispiel in Australien gefertigt und in Italien vermessen. Jetzt fühlen sich die Braunschweiger autark. "Wir haben alle Voraussetzungen im eigenen Hause, die entscheidenden Messungen vorzubereiten und durchzuführen", sagt Bettin.

Der Aufwand ist Teil einer internationalen Initiative, die Grundeinheiten in Wissenschaft und Technik über Naturkonstanten zu definieren. Das ist beim Meter bereits vor Jahrzehnten gelungen. Dieser leitet sich nicht mehr von einem metallenen Urmeter ab, sondern ist heute die Strecke, die Licht in einer 299 792 458-stel Sekunde zurücklegt. Und die Sekunde wiederum ist das gut neun-Milliarden-Fache der Schwingungsdauer eines Cäsiumatoms. In jedem der Fälle haben die exakten Zahlenwerte neun oder sogar zehn "signifikante Stellen", wie Physiker das ausdrücken. Die verbleibende Unsicherheit der Definition ist also kleiner als eins zu einer oder gar zehn Milliarden.

Das Kilogramm hingegen wird noch immer von einem physischen Objekt abgeleitet, einem Platin-Iridium-Zylinder, der in Paris verwahrt wird. Damit das geändert werden kann, müssen die PTB-Forscher die Zahl der Atome in ihren Kugeln zählen. Dafür bestimmen sie zunächst die exakte Größe der Kugel. In einem speziellen Gerät treffen Lichtstrahlen durch Linsen senkrecht auf die polierte Oberfläche. Die Wellen des Lichts überlagern sich mit ihren Reflexionen und erzeugen dabei ein Muster, aus dem sich die Distanz zwischen Messgerät und Kugeloberfläche Punkt für Punkt genau bestimmen lässt - und damit die Größe der Kugel.

Dabei gibt es allerdings etliche Störfaktoren, die die Forscher ausschalten müssen. Unebenheiten stören die Reflexion. Auch ist der Kristall von einer dünnen Oxidschicht umgeben. Das fremde Material stört die Berechnungen, aber dessen Dicke und Beschaffenheit lassen sich gut messen. Außerdem verändert sich der Kristall am Rand, weil dort den Atomen Bindungspartner fehlen, was die regelmäßige räumliche Ordnung verzerrt. "Das betrifft die obersten drei bis vier Atomlagen, und bisher können wir diesen Effekt im Rahmen der Messgenauigkeit vernachlässigen", sagt der Projektleiter Bettin.

Der zweite Schritt ist es, den inneren Aufbau der Kugel zu vermessen. Sie besteht zu 99,998 Prozent aus der leichtesten stabilen Variante von Silizium, Si-28. Russische Spezialisten haben es in monatelanger Arbeit mit Tausenden von Zentrifugen angereichert - es ist die gleiche Technik, die beim Anreichern von Uran für Atombomben verwendet wird. Aus diesem Material hat das Institut für Kristallzüchtung in Berlin-Adlershof einen sogenannten Einkristall gezogen, in dem die Atome von oben bis unten in der gleichen geometrischen Struktur angeordnet sind - wie beim Diamant. Die inneren Strukturen dieses Kristalls lassen sich mit Röntgenstrahlen genau bestimmen. Das zeigt den Forschern auch, wo sich noch fremde Atome eingeschlichen haben. Anhand dieser Zahlen können die Forscher errechnen, wie viele Atome die Kugel enthält. Wenn sie auch ihre Masse kennen, lässt sich die Masse eines einzelnen Silizium-Atoms bestimmen. Damit kann man endlich das Kilogramm definieren: als die Masse einer bestimmten Zahl Siliziumatome.

"Leider wird es damit auch sehr unanschaulich"

Dahinter steckt jene Naturkonstante, auf die es den Forschern ankommt: die Avogadro-Zahl. Sie wird in der Chemie verwendet und gibt an, wie viele Atome in zwölf Gramm Kohlenstoff enthalten sind.

Eigentlich könnten die Braunschweiger Forscher es dabei bewenden lassen. Aber tatsächlich ist das Programm ehrgeiziger. Die Forscher wollen sich auch einen Weg zu den Einheiten der Elektrizitätslehre bahnen: der in Ampere gemessenen Stromstärke, der Spannungseinheit Volt und dem Ohm des elektrischen Widerstands.

Dabei muss das Ampere selbst noch auf eine Naturkonstante zurückgeführt werden, die Elementarladung des Elektrons. Aber wenn das geschafft ist, können die Erkenntnisse aus Braunschweig helfen, die anderen Größen zu definieren. Dieser Weg führt über das sogenannte Plancksche Wirkungsquantum. Es wurde von Max Planck 1899 eingeführt, um die Beziehung zwischen Energie und Frequenz von Lichtquanten zu beschreiben. Auch Plancks Zahl ist eine universelle Naturkonstante. Sie lässt sich über einige Zwischenschritte aus der Avogadrozahl berechnen.

Das Ziel der Versuche in Braunschweig ist daher letztlich, Plancks Wirkungsquantum möglichst genau zu bestimmen. Dann lässt sich später der Weg umkehren, und das Kilogramm aus Plancks Naturkonstante ableiten. "Dieser Beschluss ist international gefallen", sagt Bettin, "und leider wird es damit auch sehr unanschaulich. Es tut mir leid für die künftigen Generationen von Schülern."

© SZ vom 27.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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