Kannibalismus unter Nordamerikas Siedlern:"Die Toten wurden aus den Gräbern geholt und gegessen"

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Als Jamestown, die älteste englische Siedlung in Nordamerika, 1609 von einer schweren Hungersnot heimgesucht wurde, verzehrten die Kolonisten ihre Toten. Knochen eines Mädchens, das zerlegt und verspeist wurde, belegen das Drama des Dorfes, in dem auch die Pocahontas-Legende spielt.

Von Markus C. Schulte von Drach

Im Mai 1607 hatten die drei Schiffe Susan Constant, Discovery und Godspeed 104 englische Siedler auf Jamestown Island im James River in Virginia abgesetzt. Und schon innerhalb der ersten neun Monate waren 66 der Männer gestorben. Einige erlagen Krankheiten, doch die meisten verhungerten, da sie die Neue Welt ausgerechnet während einer der schwersten Dürren erreicht hatten, unter denen die Region im 17. Jahrhundert litt.

Außerdem war die Lage der Siedlung in den Sümpfen am James River alles andere als ideal, um Lebensmittel anzubauen. Das aber war ursprünglich auch nicht der Plan gewesen. Vielmehr hatten die Briten, die im Auftrag der Handelsgesellschaft Virginia Company of London gekommen waren, vor allem auf den Handel mit den Einheimischen und die Versorgung durch die Heimat gesetzt.

Doch die Beziehungen zur Powhatan-Konföderation, einem Bündnis von mehr als 30 Indianerstämmen, erwiesen sich als problematisch: So wurde einer der englischen Anführer, Captain John Smith, als Gefangener der Indianer eigenen Angaben zufolge nur durch die Häuptlingstochter Pocahontas vor dem Tode bewahrt. Andere Siedler starben bei Kämpfen mit der indigenen Bevölkerung.

Im Sommer 1609 kamen mehrere Hundert weitere Siedler in Jamestown an, doch das wichtigste Versorgungsschiff war unterwegs von einem Hurrikan abgetrieben worden und erreichte die Kolonie nicht. Die Ernte in diesem Jahr war schlecht, der Winter besonders hart. So mussten die nun mehr als 300 englischen, polnischen und niederländischen Siedler auf "Hunde, Katzen und Mäuse" zurückgreifen, nachdem sie schon ihre Pferde und anderen Haustiere gegessen hatten. Dann "aßen sie Schuhe und anderes Leder", schrieb einer der Betroffenen, George Percy, 1625 in einem Brief. Schließlich "wurde nichts mehr verschont, um das Leben zu erhalten und selbst schreckliche Dinge wurden getan".

Wie Percy, der zu den ersten Siedlern gehörte und der während der Hungerkatastrophe offiziell Präsident der Kolonie war, weiter berichtete, wurden "Tote aus den Gräbern geholt und gegessen. Und einige leckten das Blut von jenen auf, die ihrer Schwäche erlegen waren". Am Ende der sogenannten " Starving Time", als im April 1610 endlich wieder Nachschub die Siedlung erreichte, lebten nur noch etwa 60 der Kolonisten.

Auch der Unterkiefer des Mädchens weist Schnittverletzungen auf. (Foto: REUTERS)

Ob die Jamestown-Siedler tatsächlich zu Kannibalen geworden sind, war unter den Fachleuten trotz der schriftlichen Hinweise bislang umstritten. Eindeutige Belege fehlten. Experten der Smithonian Institution haben nun mit kriminaltechnischen Methoden Teile eines Schädels und Schienbeins eines 14 Jahre alten Mädchens untersucht, die in einer Müllgrube der Siedlung gefunden wurden.

Von zwei Personen zerlegt

Der Archäologe Bill Kelso hatte erst 1994 den Ort wiederentdeckt, auf dem die Kolonisten das erste dreieckige Fort errichtet hatten. Die Stadt Jamestown war 1699 dorthin verlegt worden, wo sich heute Williamsburg befindet. Die genaue Position, wo die ersten Siedler das Fort James errichtet hatten, war in Vergessenheit geraten.

Kelso und sein Team vom Programm Jamestown Rediscovery hatten dort im Sommer 2012 eine Müllgrube mit Knochen entdeckt - Knochen von Pferden und Hunden. Und schließlich waren sie auf menschliche Zähne, Teile eines menschlichen Schädels, eines Kiefers und Schienbeins gestoßen.

Diese wurden Douglas Owsley überlassen, einem forensischen Anthropologen der Smithsonian Institution. Mit Hilfe der Computertomografie, der Isotopenanalyse und anderer Methoden stellte Owsley fest, dass es sich um ein etwa vierzehnjähriges Mädchen britischer Herkunft handelte. Die Knochenteile wurden mittels CT eingescannt und am Computer zu einem virtuellen dreidimensionalen Schädel zusammengefügt. Sogar das Gesicht versuchten die Fachleute zu rekonstruieren.

Etliche Schnittspuren am Kiefer, am Gesicht und am Schienbein sind Owsley zufolge klare Hinweise: "Es war eindeutig beabsichtigt, das Gesichtsgewebe und das Gehirn zu entfernen, um es zu verspeisen", sagte der Experte. "Diese Menschen waren in einer furchtbaren Lage. Deshalb nutzten sie alles Fleisch, das zur Verfügung stand."

An den Schnitten am Kopf konnte Owsley eigenen Angaben zufolge sogar ablesen, dass kein erfahrener Metzger am Werke war, niemand, der Erfahrung mit dem Schlachten von Tieren hatte, sondern jemand, der unsicher und unschlüssig vorging. Anders sieht es mit den Verletzungen des Schienbeins aus. Hier, so vermutet der Forensiker, habe jemand mit etwas mehr Erfahrung gearbeitet. Demnach hätten möglicherweise zwei verschiedene Personen die Leiche zerlegt.

Bei der Toten handelte es sich vermutlich um ein Kind, das erst 1609 mit einem der Versorgungs- und Auswandererschiffe in die Neue Welt gekommen war. Vielleicht, so spekuliert Owsley, war sie ein Dienstmädchen. Da die Isotopenanalyse ihrer Knochen dafür spricht, dass sie in den Jahren vor ihrem Tod über eine sehr proteinhaltige Nahrung verfügt hatte, hält er es jedoch für wahrscheinlicher, dass sie die Tochter eines betuchten Auswanderers war.

Umgebracht wurde das Mädchen, das die Wissenschaftler "Jane" nennen, offenbar nicht. Vielmehr hätten hungrige Kolonisten einfach aufgegessen, was sich überhaupt noch essen ließ, sagte Owsley.

Der Forensiker hat schon viele Knochen von Kannibalismusopfern analysiert, und zwar nicht nur solche, deren Fleisch in der fernen Vergangenheit verzehrt wurde. Für das FBI untersuchte der Experte in den achtziger Jahren zum Beispiel auch Opfer des Serienmörders und Kannibalen Jeffrey Dahmer.

Bill Kelso und seine Kollegen suchen bei Fort James weiter nach den sterblichen Überresten der ersten Siedler. Vielleicht werden sie auch auf jene Leiche einer Frau stoßen, von der George Percy in seinem Brief 1625 ebenfalls berichtet hatte. Sie war von ihrem Mann getötet, eingepökelt und gegessen worden. Percy selbst hatte den Mörder deshalb foltern und verbrennen lassen.

Hunger hat in der Vergangenheit immer wieder zu Kannibalismus unter Menschen geführt. So verzehrten 16 Überlebende eines Flugzeugabsturzes in den Anden 1972 die Leichen der Todesopfer der Katastrophe - und konnten schließlich gerettet werden. Ein weiterer bekannter Fall ist der Untergang der Essex, einem amerikanischen Walfänger, der 1820 von einem Pottwal versenkt wurde. Teile der Mannschaft überlebten in zwei der Fangboote, weil sie die Leichen ihrer Kameraden verzehrten. In einem der Boote loste die Besatzung aus, wer erschossen und gegessen werden sollte.

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