25 Jahre Super-GAU in Tschernobyl (4):Ein Sarkophag für den Sarkophag

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Als großartige Ingenieurskunst betrachteten viele Menschen Atomkraftwerke - bis zum Super-GAU 1986. Ein neues, gigantisches Technik-Meisterwerk soll nun helfen, die Katastrophe von Tschernobyl endlich in den Griff zu bekommen.

Markus C. Schulte von Drach

Liest man die offizielle Projektbeschreibung, so meint man fast die Begeisterung zu spüren, die bei der European Bank for Reconstruction and Development (EBRD) angesichts der zu bewältigenden Aufgabe zu herrschen scheint: "Die Konstruktion des New Safe Confinement (NSC) ist ein bislang einzigartiges Projekt in der Geschichte der Technik."

Sogar mit dem US-amerikanischen Mondprogramm wird es verglichen. Mit einer Höhe von mehr als 100 Metern, so heißt es bei der Bank weiter, werde das Stahlgewölbe groß genug sein, um die Freiheitsstatue zu überwölben.

Wenn es doch nur um etwas so Harmloses ginge wie ein Dach für die Statue of Liberty. Doch das 257 Meter überspannende, 164 breite und 29.000 Tonnen schwere Stahlgewölbe mit mehr als zehn Meter dicken Bogenwänden soll helfen, die Folgen einer der größten von Menschen verursachten Umweltkatastrophen der Geschichte in den Griff zu bekommen.

Es geht um den neuen "Sarkophag", mit dem die alte, marode und notdürftig ausgebesserte erste Hülle um das Reaktorgebäude 4 des Atomkraftwerkes Tschernobyl von der Umwelt abgeschottet werden soll. Wenigstens für die nächsten 100 Jahre soll die gigantische Konstruktion radioaktive Strahlung, die noch immer aus dem Reaktorblock austritt, aufhalten und verhindern, dass Wasser und Schnee in das alte Reaktorgebäude eindringen können. Innerhalb des neuen Sarkophags soll außerdem die alte Anlage mit Hilfe zweier riesiger Kräne abgebaut werden.

Der Kontrast zwischen der neuen Anlage und dem alten Sarkophag, der in den Tagen nach der Explosion im Reaktorkern von Block 4 im Rahmen verzweifelter Maßnahmen provisorisch errichtet wurde, könnte größer kaum sein.

Am Tag nach dem Super-GAU am 26. April 1986 hatte das sowjetische Militär begonnen, von Hubschraubern aus Sand und Lehm über dem offenen Reaktor abzuwerfen, um das Feuer in der Anlage zu ersticken und zu verhindern, dass weiterhin radioaktives Material austritt. Es folgten Abwürfe von Tausenden Tonnen von Blei, Sand, Lehm, Dolomit und Borkarbid, bei denen die Soldaten direkt in den offenen Reaktorblock hineinblicken konnten. Vom Dach des Nachbargebäudes warfen Helfer Trümmer in die Ruine - nicht mehr als drei Minuten durften sie sich dort aufhalten, dann war ihr Strahlenpensum erreicht.

Von Mai bis November errichteten dann die sogenannten Liquidatoren in Minutenschichten und mit Hilfe ferngesteuerter Kräne in aller Eile eine Hülle aus Betonplatten um das 53 Meter hohe Gebäude des Reaktors. Mehrere hunderttausend Menschen, teils freiwillig, teils zwangsrekrutiert, setzten sich dabei so hoher Strahlung aus, dass etliche später erkrankten, viele starben.

Ein Militärhubschrauber über Tschernobyl am 13. Juni 1986. Im Mai wurde mit dem Bau des Sarkophags begonnen. (Foto: Reuters)

410.000 Kubikmeter Beton und 7000 Tonnen Stahl wurden verwendet, um die Teile des Reaktorkerns, eine geschmolzene Masse aus Uran, Plutonium, Strontium, Cäsium, Graphit und Schutt sowie vermutlich mehrere Tonnen von radioaktivem Staub, provisorisch zu ummanteln. Schätzungen zufolge befinden sich noch bis zu 180 Tonnen der ursprünglich 190 Tonnen Reaktorkernmasse in der Ruine. Und das Material ist noch immer hochradioaktiv.

Die Strahlung hat - zusammen mit der Witterung - die Betonwände angegriffen. Schon bald nach der Errichtung war klar, dass die Schutzmaßnahme vielleicht zwanzig oder dreißig Jahre greifen würde. 1991 waren bereits Risse in der Hülle festgestellt worden. Doch Sanierungspläne, die die EU unterstützt hätte, waren von der ukrainischen Regierung in den neunziger Jahren abgelehnt worden, da sie nicht bereit war, wie gefordert alle Reaktorblöcke in Tschernobyl stillzulegen.

1995 dann einigten sich die Ukraine, die Europäische Kommission und die G-7-Staaten auf die Abschaltung bis 2000. 1997 wurde zwischen diesen Vertragspartnern schließlich der "Shelter Implementation Plan" vereinbart, dessen teuerster Teil die Sanierung der alten Schutzhülle, vor allem aber der Bau eines neuen Sarkophags darstellt. 2001 schätzte man die Kosten für die neue Hülle auf 1,5 Milliarden - allerdings Mark, nicht Euro! Und der Bau sollte bereits in wenigen Jahren abgeschlossen sein.

Doch es dauerte noch bis zum Jahr 2004, bis auch nur mit der Sanierung des Betonpanzers um den havarierten Reaktorblock begonnen wurde. Es war höchste Zeit. Die Oberfläche des alten Sarkophags war bereits so stark beschädigt, so dass Radioaktivität entweichen konnte und Regen- und Tauwasser eindrang. Zudem neigte sich die Westwand und drohte einzustürzen.

Dabei aber, so befürchten manche Umweltschützer, könnte erneut eine radioaktive Wolke entstehen, die die Region stark kontaminieren würde. Diese Gefahr ist - vorerst - abgewendet: Bis 2008 wurde die Wand mit Strahlkonstruktionen verstärkt, das Dach abgedichtet und zusammen mit inneren Teilen der Anlage ausgebessert. Provisorische Maßnahmen für ein Provisorium.

2007 wurde endlich das Konsortium Novarka beauftragt, den Plan eines neuen Sarkophags zu realisieren. Das Stahlgewölbe, das wegen der Strahlung aus dem Reaktorgebäude 250 Meter entfernt vom ersten Sarkophag errichtet und dann auf Schienen über das zerstörte Gebäude geschoben werden soll, wird der teuerste Teil des Shelter Implementation Plan.

Etwa 1,6 Milliarden Euro sollen insgesamt aufgewendet werden, um die alte Atomanlage in einen für die Umwelt ungefährlichen Zustand zu bringen, verkündete kürzlich die EBRD, die dafür im Auftrag der G-7-Staaten und der Ukraine seit 1997 Gelder organisiert und verwaltet. Zwei Drittel des Geldes will man in den neuen Sarkophag investieren. Bis Ende 2010 hatten EU, USA und 28 weitere individuelle Geberländer und Spender vor allem aus Europa 990 Millionen Euro in den dafür gegründeten Chernobyl Shelter Fund gezahlt. Allein aus Deutschland kamen bislang mehr als 60 Millionen Euro.

Für die Fertigstellung benötigt man demnach noch 600 Millionen Euro, heißt es bei der EBRD. Geld benötigt man darüber hinaus für die Zwischenlagerung der Brennelemente der Reaktorblöcke 1, 2 und 3. Bislang wurde der Aufbau dieser "Spent Fuel Storage Facility" von den Geberländern mit etwas mehr als 100 Millionen Euro finanziert. Weitere 140 Millionen Euro sind notwendig. Auf der Geberkonferenz in Kiew sollten deshalb jetzt insgesamt 740 Millionen Euro "eingesammelt" werden.

Doch die internationale Gemeinschaft konnte sich nur zu Zusagen für insgesamt 550 Millionen Euro durchringen. Ob die Gelder angesichts der Differenz und der bisherigen Fehlkalkulationen - ursprünglich hatte man die Sicherheitsanforderungen unterschätzt und war von halb so hohen Kosten ausgegangen - reichen werden, bleibt abzuwarten.

Immerhin: Die Fläche, auf der das Stahlgewölbe des neuen Sarkophags entstehen soll, ist inzwischen freigeräumt. Die Arbeiten waren nicht ganz einfach, da die Liquidatoren 1986 radioaktiv verstrahltes Material, darunter ganze Lastwagen, überall auf dem Gelände vergraben hatten. Die Baustelle ist mit Straßen und Schienen ausgestattet, Strom-, Wasser- und Abwasser- sowie Kommunikationsverbindungen wurden instandgesetzt, und ein modernes Gebäude zur medizinischen und strahlenschutztechnischen Versorgung der vorgesehenen 1430 Arbeiter wurde errichtet. Auch erste Teile des Fundaments wurden seit September 2010 gelegt.

Im Sommer 2015, das jedenfalls ist der Plan, wird die Stahlkonstruktion fertiggestellt sein, an den Zielort gebracht und dicht gemacht. Dann kann begonnen werden, den alten Sarkophag und die Reste des Reaktors darunter abzubauen.

Doch was ist mit der Masse aus geschmolzenen Brennelementen im Fundament des Gebäudes, die noch Hunderttausende Jahre strahlen werden? Wie soll sie herausgeholt, wie entsorgt werden? Auf diese Fragen gibt es noch keine Antworten. Und der neue Sarkophag wird in 100 Jahren selbst eine radioaktiv verseuchte Struktur sein, über deren Entsorgung sich unsere Nachfahren den Kopf zerbrechen müssen.

Das Problem der Brennelemente aus Block 4 ist allerdings möglicherweise gar nicht so groß, wie viele annehmen. Seit Jahren kritisiert etwa der Physiker Sebastian Pflugbeil vom atomkritischen Verein Gesellschaft für Strahlenschutz, dass der bei weitem größte Teil des Kernmaterials bereits bei den Explosionen 1986 aus dem Gebäude geschleudert wurde.

Er beruft sich auf den russischen Physiker Konstantin Tschetscherow, der etliche Male im Inneren des Sarkophags war und dreimal sogar den Reaktorschacht untersucht hat. "Er hat Videoaufnahmen dieser Exkursionen, auf denen zweifelsfrei zu erkennen ist, dass er tatsächlich im Reaktorschacht herumklettert und dass dort faktisch kein Kernbrennstoff vorhanden ist", berichtete Pflugbeil.

Nur ein kleiner Teil des Kernbrennstoffs sei nach unten durchgeschmolzen, vermutet der ehemalige Minister ohne Geschäftsbereich der DDR-Regierung Modrow 1989 bis 1990. Würde der alte Sarkophag einstürzen, so "wäre das sicherlich fatal", sagte er kürzlich der Zeit.

"Aber die Strahlung wird keine Folgen für Kiew oder Westeuropa haben." Anstatt Milliarden Euro in die neue Hülle zu investieren, sollte das Geld seiner Meinung nach eingesetzt werden, um die medizinische Versorgung der Bevölkerung in den seit 1986 kontaminierten Regionen zu verbessern.

25 Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl ist demnach noch immer nicht eindeutig geklärt, was damals passiert ist und wie man mit dem strahlenden Erbe umgehen sollte. Das macht es schwierig, Lehren aus der Katastrophe zu ziehen, die sich auf den Super-GAU in Japan anwenden ließen.

Naheliegend ist es natürlich, auch in Fukushima-1 einen Sarkophag um die Quellen radioaktiver Strahlung zu errichten, um kurz- oder längerfristig die Belastung der Umwelt zu minimieren. Trotz aller Horrormeldungen ist die Freisetzung radioaktiver Isotope in Japan bislang allerdings geringer als in Tschernobyl. Und es war und ist dringend notwendig, die Kernschmelze der Brennelemente in den Reaktorkernen und den Abklingbecken zu verhindern oder zu bremsen, indem die Anlagen mit Wasser und Borsäure gekühlt wurden und noch weiter gekühlt werden müssen.

Noch hoffen die Ingenieure, die Kühlsysteme soweit instand zu setzen, dass die Brennelemente in der Anlage weiter "abklingen" können. Beim Kernbrennstoff in den Reaktoren selbst dürfte das noch Wochen oder Monate dauern, bei den Brennelementen in den Abklingbecken sogar noch einige Jahre.

Sobald die Verhältnisse auf dem Gelände des Atomkraftwerkes es allerdings zulassen, sollten die Behälter mit den Brennelementen von der Umwelt abgeschottet werden, um wie in Tschernobyl Radioaktivität drinnen und Wasser draußen zu halten. Dafür müssen Teile der Gebäude dekontaminiert und Lecks gestopft werden. In einigen Monaten vielleicht könnte man daran gehen, eine provisorische Schutzhülle zu errichten, die später durch einen Sarkophag ersetzt werden könnte. Dieser bräuchte aufgrund der anderen Verhältnisse in Japan nicht ganz die Dimensionen anzunehmen wie das New Safe Confinement in der Ukraine.

Optimisten schließen nicht aus, dass dann in einiger Zeit die Brennelemente in Fukushima-Daiichi entfernt werden können, ähnlich wie es nach dem GAU im US-Atomkraftwerk Three Mile Island bei Harrisburg 1979 gelang. Dort war ein Drittel des Reaktorkerns im Block 2 geschmolzen, der Sicherheitscontainer um den Kern hatte aber gehalten, weshalb kein "Sarkophag" um die Anlage errichtet werden musste.

Bis 1993 dauerten die Aufräumarbeiten und der Abbau des Reaktors, die Entfernung von 100 Tonnen Kernbrennstoff und von mehreren Millionen Litern Kühlwasser. Die Kosten lagen bei fast einer Milliarde Dollar. Die ganze Anlage wird voraussichtlich abgebaut, wenn der Reaktorblock 1, der noch immer in Betrieb ist, ebenfalls abgeschaltet wird. Geplant ist das für das Jahr 2034.

Die Lehren, die man aus Harrisburg und Tschernobyl also ziehen kann, sind folgende: Um die Anlage in einen für die Umwelt sicheren Zustand zu bringen, um Wasser und anderes Material zu dekontaminieren, um die Brennelemente zu bergen und zu entsorgen, werden die Experten etliche Monate, vielleicht sogar Jahre brauchen. Es wird Milliardenbeträge kosten, und als Ruine wird die Anlage Fukushima-1 die Menschheit noch in Hunderten von Jahren an die Risiken erinnern, die ihre Ahnen bereit waren, einzugehen, um "kostengünstige" Energie zu produzieren.

Die gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung der kontaminierten Gebiete lassen sich dabei noch gar nicht abschätzen.

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