Genetik:Die Abenteuer des Hans J.

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Nicht alle isländischen Siedlungen sind so isoliert wie diese Kirche auf einer Insel vor Djúpivogur. Dennoch blieb die Bevölkerung über Jahrhunderte größtenteils unter sich, was spektakuläre Genanalysen wie die des geflohenen Sklaven Hans Jonatan ermöglicht. (Foto: Chris Wallber/dpa)

Biologen haben das Erbgut eines Mannes rekonstruiert, der im 18. Jahrhundert als Sklave in der Karibik geboren wurde und im 19. Jahrhundert auf Island starb. Hans Jonatans Gene finden sich noch heute in der DNA vieler Inselbewohner.

Von Hanno Charisius

Das Leben von Hans Jonatan im Schnelldurchlauf: Geboren 1784 auf der Karibikinsel Saint Croix, damals noch dänisches Kolonialgebiet. Seine Mutter Emilia Regina war eine aus Afrika stammende Haussklavin und er selbst mithin ebenfalls Sklave. Als Kind wurde Jonatan nach Kopenhagen gebracht, kämpfte in der dänischen Armee, verlor einen historischen Rechtsstreit um seine Freiheit, floh nach Island und starb dort als freier Mann früh im Alter von 43 Jahren.

Die Geschichte hat das Zeug zum Hollywood-Blockbuster. Aber auch biowissenschaftlich gibt der Plot viel her. Ohne einen einzigen Knochen oder auch nur eine einzelne seiner Zellen ist es Wissenschaftlern nämlich gelungen, Hans Jonatans Erbgut teilweise zu rekonstruieren. Nur auf Island ist ein solches Vorhaben überhaupt möglich. Das Land hat wenige Einwohner, die meisten von ihnen Nachfahren skandinavischer und britischer Siedler, die vor mehr als 1100 Jahren die Insel erreichten. Die Verwandtschaftsverhältnisse wurden seither sauber dokumentiert, und seit 1996 analysiert auch noch das Unternehmen Decode Genetics das Erbgut der Isländer. 150 000 Genome hat das Labor in Reykjavík bereits analysiert und damit fast die Hälfte der isländischen Bevölkerung erfasst. Darunter sind auch 182 der wahrscheinlich mehr als 700 Nachkommen Jonatans.

Man sieht ihnen die Verwandtschaft mit ihrem Urahn nach sieben oder acht Generation äußerlich zwar nicht mehr an, doch in ihren Erbanlagen lebt Jonatan weiter. Die Decode-Forscher spürten Genfragmente auf, die sonst nur Menschen auf dem afrikanischen Kontinent in ihren Zellen haben und puzzelten daraus ein Erbgut-Mosaik zusammen, das so ähnlich auch Jonatan in seinen Zellen hatte. Dies funktioniere, weil die Isländer so lange Zeit isoliert gelebt haben, erklären die Wissenschaftler. Sie stießen auf 593 Erbgutabschnitte, die bislang nur aus afrikanischen Bevölkerungsgruppen bekannt sind. Diese stammen deshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit von Jonatan oder vielmehr dessen Mutter, denn sein Vater war weiß, so viel ist sicher, wahrscheinlich europäischer Herkunft. Im Fachjournal Nature Genetics berichten die Genetiker um Kári Stefánsson wie sie im Computer knapp 20 Prozent von Jonatans Erbanlagen wiederherstellen konnten. Die isländischen Forscher sind sich zudem sicher, dass seine Mutter Emilia Regina aus der Region stammt, die Benin, Nigeria and Kamerun umfasst.

Seine Mutter war afrikanische Haussklavin. Als Vater ist "der Sekretär" verzeichnet

Über Jonatans Leben können die DNA-Historiker nicht viel sagen. Deutlich mehr hat der isländische Anthropologe und Autor Gísli Pálsson herausgefunden und in seinem Buch "The man who stole himself" zusammengefasst. Die Akribie, mit der die Sklavenhalter auf Saint Croix ihren Besitz einschließlich der Sklaven und deren Kinder protokolliert haben, half ihm dabei sehr. So stieß er auf Dokumente, die den Preis der Sklaven auflisten, darunter den von Jonatans Mutter. Emilia Regina wird in den Dokumenten als Haussklavin aufgeführt. Deshalb könnte sie gewisse Privilegien gehabt haben, glaubt Pálsson. Indem sie die Haussklaven besser behandelten, versuchten die Zuckerbarone nämlich, sich deren Loyalität zu sichern. Schließlich kümmerten sich diese Sklaven um den Nachwuchs der Plantagenbesitzer und hätten jederzeit Gift ins Essen rühren können. Vielleicht wurde Regina deshalb erlaubt, ihren Sohn Hans zu behalten, dessen Geburt am 12. April 1784 in den alten Kirchenbüchern verzeichnet ist. Als Vater wird dort "der Sekretär" genannt. Mindestens drei weiße Männer aus dem direkten Umfeld Reginas kommen dafür nach Pálssons Recherche infrage.

Als Hans Jonatan drei oder vier Jahre alt war, wurde seine Mutter von einem neuen Besitzer nach Kopenhagen gebracht. Er selbst sollte erst vier Jahre später folgen. Es dürfte für den kleinen Hans ein Kulturschock gewesen sein, schreibt Pálsson. Von der beschaulichen Insel, deren größte Siedlung 1000 Menschen fasste, in die stinkende, lärmende Großstadt mit damals enormen 100 000 Einwohnern. Wahrscheinlich durfte Hans am Hausunterricht der Kinder seiner Besitzer teilnehmen. Ende des 18. Jahrhunderts waren Schwarze in Kopenhagen keine Seltenheit mehr, zwischen fünfzig und hundert Haussklaven könnten damals dort gelebt haben, schätzt Pálsson. Zu dieser Zeit hat Hans Jonatan in den Straßen der Stadt womöglich auch die ersten Isländer getroffen, die zur Ausbildung nach Dänemark gekommen waren. Vielleicht knüpfte er damals Kontakte, die später sehr hilfreich für ihn waren.

Als Hans fast 17 Jahre alt war, wurde sein Freiheitsdrang zu groß, um sich noch den Befehlen seiner Hausherrin zu beugen. Er riss aus und trat der Armee bei, die jeden Mann brauchte, um die Stadt gegen die Engländer zu verteidigen. 2000 Dänen starben in diesen Tagen, Hans Jonatan entkam den Kämpfen unverletzt und hielt mit seinem Sold zum ersten Mal eigenes Geld in Händen.

Er wähnte sich ein paar Tage lang als freier Mann. Doch seine alte Herrin wollte ihn nicht ziehen lassen und zog vor Gericht. Zwar war es seit 1795 verboten, Sklaven nach Dänemark zu bringen, da Hans Jonatan aber früher gekommen war, sollte für ihn noch das alte Recht gelten. Der Streit ging als Fall Nummer 345/1801 in die Geschichte ein, und er sollte nicht gut für Jonatan enden. Die Richter entschieden, dass seine Herrin ihn zwar nicht nach den neuen dänischen Gesetzen besitzen konnte, dass er aber nach Rechtslage in Saint Croix immer noch ihr Eigentum war. So wurden ihr 15 Tage gegeben, Hans Jonatan wieder nach Saint Croix zu bringen und dort zu verkaufen. Sie machte von diesem Recht nicht Gebrauch, und Hans Jonatan verschwand im Sommer 1802.

Erst drei Jahre später tauchte er wieder auf. Dokumente belegen, dass er in der kleinen Hafenstadt Djúpivogur an der Ostküste Islands eine Ausbildung zum Kaufmann begann. Wie Jonatan es nach Island geschafft hat, darüber kann Pálsson nur spekulieren. Sein Chef Jon Stefansson las viel und stellte Jonatan seine Bibliothek zur Verfügung. Von Jonatan unterzeichnete Handelsdokumente bezeugen nicht nur seine Arbeit in der Hafenstadt, sondern auch, dass der Fremde dort vorbehaltlos aufgenommen wurde. Der Mann, der sich selber stahl, verheimlichte seine Herkunft und seine Geschichte nicht, wurde Mitglied der Gemeinde, zahlte Kirchensteuer, auch das ist dokumentiert. Er wurde zu einer "Stütze der Gesellschaft", schreibt Pálsson. Am 28. Februar 1820 heiratete Jonatan die Isländerin Katrín Antoníusdóttir, die von vielen Zeitgenossen verehrt wurde. Das Paar bekam drei Kinder, von denen eines früh starb. Nur etwas mehr als sieben Jahre nach der Hochzeit, am 18. Dezember 1827, brach Hans Jonatan tot zusammen. Er wurde auf dem Friedhof von Háls beigesetzt, in einem unmarkierten Grab.

Der Fall Jonatan sei einzigartig, schreiben die isländischen Genetiker in ihrem Fachartikel über die Rekonstruktion dessen Erbguts. In weniger ungewöhnlichen Fällen sei es sicher nicht so einfach, derart viel der verschollenen Erbanlagen aufzuspüren. Maximal zehn Generationen könne man auf diese Weise zurückverfolgen. Vor allem zeigt die Studie aber, wie sich die genetische Vergangenheit eines Menschen im Mosaik seiner Gene spiegelt, und wie ein Mensch selbst nach vielen Generationen noch Spuren hinterlässt, auch wenn man sie nicht mehr sehen kann.

© SZ vom 29.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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