Eric Kandel im Interview:"Wir sind mehr als hochentwickelte Affen"

Der Film "Auf der Suche nach dem Gedächtnis" porträtiert den Hirnforscher Eric Kandel. Ein Gespräch mit ihm über die Einzigartigkeit des menschlichen Hirns.

P. Illinger

Zwei Tage nach seinem neunten Geburtstag brach die Gewalt über Eric Kandels Leben herein. Die Wohnung seiner Familie wurde von der Gestapo geräumt und geplündert. Um aus der nationalsozialistisch gewordenen Heimatstadt Wien zu entkommen, schlug sich der junge Kandel mit seinem Bruder bis nach New York durch. Auf Umwegen trafen dort, Monate später, auch seine Eltern ein. Zunächst an psychologischen Fragen interessiert, wandte sich Kandel der Neurobiologie zu und widmete ein Forscherleben dem Thema Erinnerungen. Beharrlich machte er sich auf die Suche nach den Substraten des Gedächtnisses im menschlichen Hirn. Im Jahr 2000 wurde er mit dem Nobelpreis geehrt. Eine autobiografische Beschreibung seiner Entdeckungen veröffentlichte Kandel 2006 mit dem Buch "Auf der Suche nach dem Gedächtnis". Seit dieser Woche ist ein Film mit dem gleichen Titel über den 1929 geborenen und weiterhin aktiven Forscher in deutschen Kinos zu sehen.

Eric Kandel im Interview: Eric Kandel war maßgeblich an der Erforschung der molekularen Zusammenhänge beteiligt, die für das Gedächtnis entscheidend sind. Im Jahr 2000 erhielt er dafür den Nobelpreis.

Eric Kandel war maßgeblich an der Erforschung der molekularen Zusammenhänge beteiligt, die für das Gedächtnis entscheidend sind. Im Jahr 2000 erhielt er dafür den Nobelpreis.

(Foto: Foto: dpa)

SZ: Professor Kandel, warum merken wir Menschen uns im Laufe des Lebens so viel dummes Zeug?

Kandel: Ganz sicher bin ich da auch nicht. Ich denke, wir merken uns oft Dinge, die mit anderen, wichtigeren Ereignissen zusammenhängen. Mit einer Liebesaffäre, den Eltern, einem Kunstwerk. So werden wahrscheinlich auch dumme Erinnerungen mitgeschleppt. Sigmund Freud hätte wohl vermutet, dass es immer eine Verbindung zu etwas Tieferem gibt - auch wenn man sich an etwas Dummes erinnert.

SZ: Wäre es gut, wir könnten lästige oder böse Erinnerungen einfach löschen?

Kandel: Das ist eine äußerst schwierige moralische Frage. Wenn wir Teile eines Gedächtnisses löschen, ändert das die komplette Persönlichkeit eines Menschen. Ein Mensch ist das, was er gelernt hat und was er erinnert. Wenn Sie ihm sein Gedächtnis nehmen, rauben Sie ihm praktisch die Existenz. Daher wäre ich hier extrem vorsichtig.

SZ: In vielen Fällen würden Menschen vom Vergessen profitieren, traumatisierte Soldaten, Flüchtlinge...

Kandel: ... oder Opfer einer Vergewaltigung. Ja, das sind gute Beispiele für Fälle, in denen das Löschen von Erinnerungen hilfreich sein könnte. Es gibt ja Therapieansätze, um Traumata zu bekämpfen. In Fällen, in denen das nicht funktioniert, muss man erwägen, selektiv mit Medikamenten einzugreifen. Grundsätzlich sehe ich aber eher einen prospektiven Ansatz. Der betrifft Menschen, die sich in Gefahrensituationen begeben, Feuerwehrleute etwa. Hier könnte es helfen, eine Traumatisierung im Voraus zu verhindern. In Ansätzen gibt es solche Medikamente schon, zum Beispiel, um Lampenfieber zu dämpfen.

SZ: Spricht umgekehrt etwas dagegen, das Gehirn oder das Gedächtnis mit Pillen zu stärken?

Kandel: Ich meine, es gibt Kriterien, nach denen sich beurteilen lässt, ob und wann man der menschlichen Gehirnleistung auf die Sprünge helfen sollte. Wenn das Gedächtnis nachlässt, Ende 60, Anfang 70, dann sehe ich überhaupt kein Problem darin, Menschen auch Medikamente zu verschreiben, sofern es sie gibt. Das ist wie ein Vitamin- oder Hormonmangel. Pillen gegen Alzheimer wären ja auch nicht verwerflich. Wenn es aber um einen 18-Jährigen geht, der sich auf das Abitur vorbereitet, halte ich es für eine törichte Idee. Nicht dass Jugendliche keine Medikamente bekommen dürfen, und wir reden auch nicht über geistig behinderte Menschen. Aber ein gut funktionierender Erwachsener sollte sein Gehirn nicht mit Medikamenten aufpeppen. Das wäre wie Doping im Sport.

SZ: Diese ethischen Grenzen sind aber unscharf. Die Hirnforschung konfrontiert uns jedenfalls mit immensen ungelösten ethischen Fragen.

Kandel: Sicher, riesige Fragen, die nicht allein von Naturwissenschaftlern beantwortet werden dürfen. Die Gesellschaft als Ganzes muss für sich klären, wie sie mit neuen Möglichkeiten, ins Gehirn einzugreifen, umgeht.

"Das Gehirn ist nicht von Mercedes-Benz gebaut"

SZ: Ihre große Forscherleistung war, die Chemie des Erinnerns zu entschlüsseln. Was braucht ein funktionierendes Gehirn noch? Gibt es physikalische Eigenschaften? Kybernetische Regeln?

Kandel: Unterschätzen Sie die Bedeutung des molekularen Ansatzes nicht! Er erklärt, wie sich neuronale Veränderungen bilden, wenn das Gehirn von außen Informationen bekommt. Nach diesem Gespräch werden sie und ich ein anderes Gehirn haben als vorher, weil sich Gedanken und Erinnerungen in den Neuronen manifestieren. Anatomische Veränderungen sind fundamental für die Speicherung von Erinnerungen. Was andere Mechanismen betrifft, zum Beispiel die zeitliche Synchronisierung neuronaler Geflechte, so ist nicht abschließend geklärt, wie wichtig das tatsächlich ist.

SZ: Braucht das Gehirn neben der Chemie nicht auch eine Art Software?

Kandel: Die dem System Logik verleiht? Schon möglich. Irgendwie muss ja entschieden werden, ob ein äußerer Reiz eine Belohnung oder Bedrohung darstellt. Dennoch: Die chemischen Systeme sind erstaunlich komplex und sensibel. Nehmen Sie Dopamin: Zu viel davon, und die Logik des Systems Gehirn bricht zusammen.

SZ: Es heißt, das Gehirn habe um die 100 Milliarden Neuronen. In der Computerwelt entspräche das 100 Gigabit, also weniger, als eine PC-Festplatte speichern kann. Wo ist der Platz, auf dem wir Menschen unsere vielen Erinnerungen speichern?

Kandel: Wie viel Platz soll es denn sein? 100-mal mehr? 1000-mal mehr? Ich kann ihnen das sofort liefern. Sie haben nämlich angenommen, dass jede Informationseinheit ein Neuron besetzt. Meine Arbeiten haben aber gezeigt, dass ein Neuron Hunderte, ja bis zu tausend Synapsen bilden kann. Im Prinzip kann also jede Nervenzelle viel mehr Informationseinheiten speichern. Das gibt uns noch einige Jahre Vorsprung vor den Computern.

SZ: Ist das menschliche Gehirn nur ein weiterentwickeltes Organ aus dem Tierreich, oder gibt es prinzipielle Unterschiede?

Kandel: Das ist eine hochaktuelle und umstrittene Frage. Ich kann Ihnen zwei Eigenschaften des menschlichen Gehirns nennen, die, wenn nicht einzigartig, zumindest dramatisch anders sind als bei Tieren. Erstens: Menschen haben sprachliche Fähigkeiten, die Tiere nicht haben. Sicher, Vögel haben Lieder, und Wale kommunizieren, aber das hat nichts mit den kulturellen Möglichkeiten des menschlichen Gehirns zu tun. Wir Menschen verstärken unsere Kenntnisse auch über kulturelle Evolution. Das machen Tiere nicht. Zweitens: Wir Menschen besitzen Einfühlungsvermögen. Jeder von uns beiden kann sich zum Beispiel während dieses Gesprächs ein Stück weit in den anderen hineinversetzen. Das können allenfalls, und nur in Ansätzen, noch ein paar höher entwickelte Affen.

SZ: Findet man im menschlichen Gehirn physische Substrate, die solche exklusiven Fähigkeiten ermöglichen?

Kandel: Das Gehirn ist nicht von Mercedes-Benz gebaut. Wenn Mercedes-Benz morgen beschließt, völlig andere Autos zu bauen, sagen wir nur noch Elektroautos, dann können sie das tun, einfach bei Null anfangen. Das kann die Evolution nicht. Sie muss immer auf dem aufbauen, was schon war. Man wird also Ansätze aller Fähigkeiten des Menschen auch irgendwo im Tierreich finden. Auch entsprechende Spuren im Gehirn.

Wie realistisch ist der Film?

SZ: Die Evolution hat ja auch einen Haufen unnötigen Müll im menschlichen Körper hinterlassen.

Kandel: Das ist der Grund für viele Probleme. Schreckliche Gewaltausbrüche, zum Beispiel gegen Fremde, das ist offenbar im Genom eingebaut. Total vernünftige Leute können sich in Ungeheuer verwandeln, wenn man sie in die richtige Umgebung versetzt. Das ist in der Geschichte oft genug geschehen. Es ist daher die Aufgabe jeder Gesellschaft, ihre Mitglieder vor diesen jederzeit möglichen Gewaltausbrüchen zu schützen, indem sie Umstände verhindert, die so etwas befördern.

SZ: Sie sind ein glühender Verehrer von Kunst. Darüber soll auch ihr nächstes Buch gehen: Worum genau?

Kandel: Stimmt, ich sammle Kunst. Und ich schreibe ein Buch. Es geht um die Bedeutung der unbewussten Instinkte Liebe und Aggression. Dass dies die wichtigsten Triebe des Menschen sind, wurde unabhängig von Freud und drei österreichischen Künstlern Klimt, Kokoschka und Schiele erkannt. Ich will herausstellen, wie jeder von diesen dazu einen Beitrag geleistet hat. Freud hatte grandiose Einblicke in das Unterbewusstsein und in die Sexualität, wobei er die weibliche Sexualität jedoch überhaupt nicht richtig verstanden hat. Schnitzler und Klimt hingegen hatten phantastische und ehrliche Einblicke in das intime erotische Leben von Frauen. Sie waren von Anfang an sicher, dass es nur zwei wichtige Komponenten im Leben gibt: Liebe und Tod. Das verbindet sie wiederum mit den Ideen Freuds, der allerdings dem Tod erst unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs die gleiche Bedeutung gab wie der Sexualität. Verschiedene Menschen, die gleichen Themen, darum wird es in meinem nächsten Buch gehen.

SZ: Erkennen Sie sich selbst wieder, wenn Sie den neuen Film über Sie sehen?

Kandel: Das ist interessant, man hat irgendwie ein anderes Bild von sich selbst. Die Regisseurin, Petra Seeger ist eben eine gute Expressionistin. Sie zeichnet manches stärker als ich es sehe. Man bekommt zum Beispiel den Eindruck, das Judentum sei ein dominierendes Thema in meinem Leben, was gar nicht so ist.

SZ: Das macht der Film aber deutlich. Auch Ihren Konflikt zwischen der Religion und Ihrer Ansicht, dass der Tod das absolute Ende ist.

Kandel: (schmunzelt) Sie müssen aber nicht unbedingt zum Judentum übertreten, um diesen Konflikt zu bewältigen.

SZ: Würden Sie heute nochmal in die Wissenschaft gehen?

Kandel: Auf jeden Fall, das wusste ich auch schon vor dem Nobelpreis. Könnte ich etwas anderes tun? Vielleicht, ich habe mal über eine Kunstgalerie nachgedacht. Aber ich wäre wahrscheinlich schnell genervt, wenn die Leute dauernd gucken und nichts kaufen. Nein, das Vergnügen, das mir die Wissenschaft bereitet, ist nicht zu übertreffen.

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