Die älteste Vorfahrin des Menschen:Unsere neue Nummer eins

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Vor Lucy war Ardi: Forscher präsentieren der Welt die Überreste einer Urahnin des Menschen: Ardi ist 4,4 Millionen Jahre alt - und damit deutlich älter als der berühmte Skelettfund Lucy.

Hubert Filser

Ardi wog 50 Kilogramm und war 1,20 Meter groß. Sie aß Insekten, Feigen, Nüsse und kleine Säugetiere. Sie lebte in den zwei Welten des bewaldeten Buschlandes: Unten am Boden ging sie aufrecht, setzte dabei ihre Füße flach auf, oben in den Bäumen spazierte sie grazil auf den Ästen. Ihre riesigen Zehen waren ideal, um sich an Lianen oder Zweigen festzuhalten.

Die zeichnerische Rekonstruktion zeigt, wie Ardi ausgesehen haben könnte. (Foto: Foto: dpa/Science /Zeichnung: J. H. Matternes)

Ardi hatte ein Fell und große, aber nicht mehr wirklich gefährliche Eckzähne. Ardi war eine Frau, und sie hatte es geschafft, dass ihr Mann, der etwa genauso groß wie sie war, sich nicht wie die Affen in der Gegend aggressiv gebärdete, um sie begatten zu dürfen. Nein, er war eher ein Partner, der sich auch um den Nachwuchs kümmerte.

Das alles berichtet ein Wissenschaftler-Team um den Paläoanthropologen Tim White von der University of California in Berkeley in der neuesten Ausgabe des Fachmagazins Science (online). Bereits 1992/93 hatten sie das Skelett von Ardi in Aramis in der Afar-Senke im Nordosten Äthiopiens gefunden.

Erst jetzt präsentieren sie Ardipithecus ramidus medienwirksam als die derzeit älteste bekannte Vorfahrin des modernen Menschen - mit 4,4 Millionen Jahren sei sie neuer Rekordhalter. Mit Ardi kommen wir eine Million Jahre näher an unsere Wurzeln als mit der bislang sehr viel berühmteren Lucy, einem weiblichen Skelett der Gattung Australopithecus afarensis.

Lucy war der bislang wichtigste Beleg, dass Menschen auf zwei Beinen liefen, ehe sich ihr Gehirn entscheidend weiterentwickelt und im Volumen zugenommen hatte. Lucy lebte ausschließlich auf der Erde. Nun ist Ardi die neue Nummer eins, und Experten wie der Frankfurter Paläoanthropologe Friedemann Schrenk bestätigen die hohe fachliche Qualität der Veröffentlichungen.

Große Arme, kleines Gehirn

"Schließlich haben 47 Wissenschaftler die bedeutenden Funde 15 Jahre lang ausgewertet", sagt er. "Und der Fund selbst ist schon toll, von dem Skelett ist unheimlich viel erhalten." So viel, dass es die Forscher sogar wagen, eine Zeichnung von Ardi zu veröffentlichen.

Die überlangen Arme, die bis fast übers Knie reichen, fallen sofort auf, auch die langen Finger und die riesigen abgespreizten großen Zehen, mit denen sie greifen konnte, und der kleine Kopf mit dem zwangsläufig kleinen Gehirn - es fasst nur rund 300 Kubizentimeter. Die Hominiden entwickelten erst rund zwei Millionen Jahre später ein größeres Gehirn, als sie begannen, Werkzeuge zu nutzen.

Besonders der Gang von Ardi muss bemerkenswert gewesen sein. Von Teamchef White ist der Satz überliefert, dass man schon in die Weltraumbar von Star Wars gehen müsse, wenn man ein Wesen finden wolle, das sich ähnlich eigenwillig bewege wie Ardi es getan hat. So spricht jemand, der sich der Bedeutung seines Fundes bewusst ist, den er und seine Mitstreiter in mühseliger Arbeit aus staubtrockenen, Millionen Jahre alten Sedimenten des Flusses Awash geholt haben.

Flösse, Seen und Überschwemmungsgebiete haben in der Zeit vor 5,5 bis 3,8 Millionen Jahren eine 300 Meter dicke Schicht aufgetürmt, voller Fossilien. Auch Lucy war 1974 in dieser Region entdeckt worden, ebenso die ältesten Werkzeuge der Menschheit. Die Afar-Senke gilt als Wiege der Menschheit.

Whites Mitarbeiter Haile Selassie hatte Ardis erste Backenzahn bereits 1992 gefunden. Am 11. November 1994 tauchte der erste Knochen, ein Stück der Hand. 1994 publizierte White den Fund in der Fachzeitschrift Nature und taufte die Art Ardipithecus. Daraus entstand dann der wenig einfallsreiche Spitzname "Ardi".

Hier hatten sich die Entdecker von Lucy mehr einfallen lassen, erzählten sie doch damals, sie hätten den Beatles-Song "Lucy in the sky with diamonds" gehört. White liefert nur die einfache Erklärung, Ardi sei das Wort für Boden in der lokalen Afar-Sprache, und pithecus das griechische Wort für Affe, der Affe also, der auf dem Boden lebt.

Wobei man nicht behaupten kann, dass der Amerikaner lieblos mit den Fossilien umgehen würde - im Gegenteil: Es gibt Bilder, die ihn mit Zahnarztbesteck auf dem grau-beigen Boden liegend zeigen, wie er minutiös ein kleines Knöchelchen freilegt und anschließend mit einer Art Kleber die brüchigen Fragmente zusammenklebt.

In der heißen äthiopischen Luft stundenlang auf den Boden zu starren und nach Knochen zu suchen, die sich in ihrem ausgewaschenen Beigegrau kaum von der Umgebung unterscheiden, muss man mögen. "Nichts auf dem Feld kommt von selbst", sagt White.

Sensation Ardi
:Die älteste Vorfahrin des Menschen

Sie hatte ein kleines Gehirn, war jedoch auf zwei Beinen unterwegs und weniger aggressiv als Affen. Forscher präsentieren eine Sensation: Die 4,4 Millionen Jahre alte Ardi.

Umso triumphaler muss so ein Tag wie heute sein, wenn man einen wichtigen Baustein in der Entwicklungslinie der Menschheit so exakt untersucht hat. Sonst könnten die Forscher auch nicht behaupten, Ardi sei auf Ästen gelaufen und gleichzeitig auf dem Boden, und dass sich die Linie der Hominiden und der Affen tatsächlich vor rund sieben Millionen Jahren getrennt hat und es nicht sinnvoll sei, Schimpansen und Gorillas als Vorbild für den letzten gemeinsamen Vorfahr zu nehmen.

Sensation Ardi
:Die älteste Vorfahrin des Menschen

Sie hatte ein kleines Gehirn, war jedoch auf zwei Beinen unterwegs und weniger aggressiv als Affen. Forscher präsentieren eine Sensation: Die 4,4 Millionen Jahre alte Ardi.

Ardi ist für die Anthropologen deshalb so wertvoll, weil jedes ihrer Körperteile etwas über die Entwicklung der Menschheit verrät. Und fast von allem etwas da ist: Schädel, Zähne, Becken, Hände, Füße und andere wichtige Knochen haben die Forscher analysiert.

Aufrecht im Buschland

Ardipithecus ramidus verkörpert eine Art Zwischenzustand, die Gattung besitzt viele primitive Eigenschaften von Primaten, die vor ihr lebten, und auch bereits einige, die erst später bei den Hominiden auftauchen. Von weiteren 35 Individuen haben die Forscher ebenfalls einzelne Knochen oder Zähne gefunden.

Besonders aufwendig war es, die Lebensumgebung vor 4,4 Millionen Jahren zu rekonstruieren. Und hier wartet ebenfalls eine Überraschung: Der aufrechte Gang hat sich demnach nicht in der Savanne oder im offenen Grasland entwickelt, sondern im noch relativ dicht bewaldeten Buschland, an den Rändern von tropischen Regenwäldern.

Die Landschaft war damals völlig anders als heute", sagt Tim White. In den Bäumen kletterten Affen, am Boden lebten zahlreiche Kudus, sowie Hyänen, Elefanten, Giraffen, Antilopen und viele kleine Säugetiere wie Spitz- und Fledermäuse. Es gab viele Quellen und zwischendurch immer wieder Zonen mit sehr dichtem Wald.

An Vogelarten konnten die Forscher Eulen, Papageien und Pfaue identifizieren. Die genaue Analyse dieser Funde erlaube ihm diese Zeitreise Millionen Jahre zurück, meint White. Es sei ein Schnappschuss der Vergangenheit.

Erstaunt äußern sich die Forscher darüber, dass unsere Vorfahrin Ardi so wenig mit heute lebenden Schimpansen und Gorillas gemeinsam hat. Damit wären genau unsere heute noch lebenden engsten Verwandten "schlechte Vorbilder" für den letzten gemeinsamen Vorfahr.

Die afrikanischen Affen hätten sich im Lauf der Zeit erheblich verändert, sie passten sich optimal an die Wälder an, schwangen sich locker von Ast zu Ast, sie entwickelten auch am Boden einen eigenen Gang, den Knöchelgang, den sie heute noch zeigen.

Weniger Aggression

Doch Ardi lief nicht auf den Knöcheln, sie hangelte sich auch nicht von Ast zu Ast. Damit sei klar: Hominiden und Affen haben zwei völlig verschiedene Pfade der Evolution beschritten. Auch im sozialen Bereich gab es wohl deutliche Unterschiede.

Während Schimpansen und Gorillas nach wie vor auf Aggression setzen, war Ardi die Attraktivität der männlichen Partner wichtig. Dies zeigen die verkleinerten Eckzähne. Es gab weniger Konflikte zwischen Männern. Die soziale Struktur habe sich so weit verändert, dass sich Paarbeziehungen ergaben und Männer deutlich mehr in die elterliche Fürsorge investiert haben, schreibt Owen Lovejoy, einer der Autoren in Science.

Männer und Frauen waren auch in etwa gleich groß, bei den Menschenaffen ist das Männchen stets größer. Warum es in der Generation Lucy eine Million Jahre später die Unterschiede im Körperbau und womöglich auch im Verhalten wieder gab, ist noch völlig unklar.

Klar ist aber, dass Schimpansen nicht mehr als Studienobjekte für unsere Urahnen taugen. "Darwin ist sehr klug mit diesem Thema umgegangen", sagt White. "Er sagte, wir müssen wirklich sehr vorsichtig sein. Der einzige Weg, wirklich zu erfahren, wie dieser letzte gemeinsame Vorfahre aussah, ist ihn zu finden."

Titelgeschichte, Editorial, elf wissenschaftliche Texte und zudem einige einordnende Texte über das Leben und die Zeit von Ardi, Ardipithecus ramidus: Will man bei den Herausgebern von Science mit diesem wissenschaftlichen Paukenschlag im Darwin-Jahr die Evolution feiern und im eigenen Land den Kreationisten eine volle Breitseite geben?

In jedem Fall passt es zur neuen Politik der großen Forschungsmagazine, dass sie selbst machtvoll Themen setzen wollen. "Solche Geschichten in Science haben natürlich einen hohen Verkaufswert", kommentiert Paläoanthropologe Friedemann Schrenk. "Aber das ist auch gut so für die Disziplin.""

Denn die Suche geht weiter, die kleine Ardi mit ihren überlangen Armen wird dabei nur ein Zwischenschritt sein, man habe nur ein "Fenster geöffnet" in die Zeit vor 4,4 Millionen Jahren. Jetzt gilt es die Lücke von weiteren zwei bis drei Millionen Jahren zu schließen bis zum wirklich letzten gemeinsamen Vorfahr.

© SZ vom 02.10.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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