Biologie:Von wegen mies

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Ratten sind superschlau, hilfsbereit und manche können schwimmend lange Strecken zurücklegen. So haben sie die ganze Welt erobert.

Von Kathrin Zinkant

Wenn sich eines über die Wanderratte sagen lässt, dann dass sie das Alleinsein mehr fürchtet als den Tod. Neuseeländische Forscher haben das auf schmerzhafte Weise lernen müssen, als sie vor zehn Jahren ein männliches Exemplar von Rattus norvegicus in die Falle lockten. Das Team von der University of Auckland verpasste der Ratte ein Funkhalsband, nahm eine DNA-Probe und setzte das Tier auf dem 9,5 Hektar großen, unbewohnten und rattenfreien Eiland Motuhoropapa aus. Das Experiment sollte zeigen, wie die Nager eine Insel erobern und wie man eine Ratteninvasion frühzeitig unterbinden kann.

Nur die Ratte spielte da nicht mit. Anfangs ließ sie sich noch brav verfolgen - doch als die Forscher das Tier nach vier Wochen wieder in Gewahrsam nehmen wollten, blieben die Fallen leer. Der Nager ließ sich weder durch Schokolade noch durch Erdnussbutter, weder durch Lachs noch durch Salami korrumpieren. Nach zehn Wochen verloren die Wissenschaftler das Funksignal. Erst als man auf einer benachbarten Insel Kotspuren identifizierte, wurde klar: Die Ratte war abgehauen. Und wie! Auf der Suche nach sozialem Anschluss war das Tier ins Wasser gesprungen - und fast einen halben Kilometer durchs offene Meer nach Otata hinübergeschwommen. "Eine vereinzelte Ratte zu eliminieren, ist unverhältnismäßig schwierig", resümierte das Forscherteam damals trocken im Fachjournal Nature.

Die Wanderratte ist nicht ohne Grund das erfolgreichste Säugetier

Einmal mehr war klar geworden, wie wenig man doch über wild lebende Ratten wusste. Als gute Schwimmer sind Wanderratten zwar bekannt. Aber im Verhältnis müsste ein Mensch fast vier Kilometer durchs Meer schwimmen, um es mit der Superratte von Motuhoropapa aufzunehmen. Die Wanderratte ist wohl nicht ohne Grund das erfolgreichste Säugetier der Welt. Von der Antarktis und ein paar Inseln abgesehen, bewohnt sie heute die ganze Welt.

Ohne den Menschen wäre Rattus norvegicus aber keine globale Spezies geworden: Bis vor 300 Jahren war die Wanderratte hauptsächlich im Nordosten Chinas zu Hause. Erst die Kolonialisierung der Kontinente durch die Schifffahrt ermöglichte ihr die Expansion ihres Lebensraums. Der britische Naturforscher John Berkenhout soll einst vermutet haben, dass das Tier auf norwegischen Schiffen nach England eingereist war. Das gilt zwar heute als ausgeschlossen. Der Namenszusatz aber blieb: norvegicus.

So verbreitet die Wanderratte in der Welt heute ist, die größte Rolle spielt sie für den Menschen in der Wissenschaft. Denn auch die weiße Laborratte ist eine Wanderratte. Sie geht auf Albinos zurück, die im 19. Jahrhundert gefangen wurden. 1906 begann man, die rotäugigen Sonderlinge am Wistar Institute in Philadelphia für die Forschung zu züchten.

Das Gehirn des Nagers ist ein nur zwei Gramm schweres Böhnchen aus Nervenzellen

Vor allem in der Neurobiologie und der Verhaltensforschung sind Ratten heute besonders beliebt. Von Alzheimer bis Schlafstörung lassen sich in den Tieren zahlreiche seelische Leiden für medizinische Experimente abbilden. Rattus norvegicus lernt zudem verblüffend schnell und überrascht selbst erfahrene Wissenschaftler immer wieder mit ihrer Intelligenz. Man hat sogar das Phänomen der Metakognition bei den Tieren beobachtet: Wenn die Ratte zum Beispiel weiß, dass sie eine Aufgabe vermutlich nicht lösen kann, wählt sie eine geringere, aber sichere Belohnung, anstatt sich mit geringer Aussicht auf Erfolg auf die Aufgabe zu stürzen. Das ist eine ziemlich anspruchsvolle Art zu denken. Dabei ist das Gehirn des Nagers ein nur zwei Gramm schweres Böhnchen aus Nervenzellen, das sich neben dem 1,4-Kilogramm-Denkapparat eines Menschen eher bescheiden ausnimmt.

Trotzdem lassen sich an den Tieren Eigenschaften beobachten, die mit ein paar Vorurteilen aufräumen sollten. Zum Beispiel dem, dass die Ratte eine miese wäre. So befreien die Tiere einen einsamen Artgenossen aus einer engen Plastikröhre - versuchen dafür über Stunden hinweg die Verschlusskappe zu öffnen. Sie können dabei auch zwischen dem Leidensdruck gefangener Ratten unterscheiden: Sitzt ein Nager tropfnass in seiner Falle, befreien sie ihn zuerst. Denn Ratten schwimmen zwar gern, aber stete Nässe macht sie krank. Genauso wie Dreck. Weshalb Ratten mitnichten schmutzige Tiere sind, sondern extrem reinlich: Sie verbringen die Hälfte ihrer Lebenszeit damit, ihr Fell zu säubern, und helfen sich auch gegenseitig.

© SZ vom 25.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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