Beschneidung von Neugeborenen: Fragwürdige Betäubung

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags haben im Gesetz zur religiösen Beschneidung festgelegt, dass eine effektive Schmerzbehandlung gewährleistet sein muss. Doch das Mittel, das bei Neugeborenen angewendet wird, ist dafür gar nicht zugelassen. Jetzt bewerten europäische Experten den Einsatz sogar als "ethisch nicht akzeptabel".

Von Markus C. Schulte von Drach

Es war eine engagierte, teilweise hochemotionale Debatte, die der Entscheidung im Deutschen Bundestag im Dezember 2012 voranging. Dann stimmte die Mehrheit der Abgeordneten für das Gesetz, das die religiöse Beschneidung von Jungen legalisiert. Zuvor hatte sich der Ethikrat dafür ausgesprochen, den Eingriff gesetzlich zu erlauben - allerdings nur, wenn dieser "nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird".

Dies sei im Gesetzentwurf der Regierung ein zentraler Punkt gewesen, betonte Stephan Thomae (FDP) während der Diskussion im Parlament. "Die Regeln der Kunst sind das Maß aller Dinge."

Dabei ging es nicht nur um den Schnitt selbst. Da es sich "um einen Schmerzen verursachenden Eingriff in die körperliche Unversehrtheit handelt", so steht es in der Erklärung zum Gesetzentwurf, "ist als weitere Voraussetzung [...] eine effektive Schmerzbehandlung zu fordern". Die Formulierung "nach den Regeln der ärztlichen Kunst", heißt es dort weiter, decke diese Anforderung ab.

Doch nun gibt es Zweifel daran, ob diese "effektive Schmerzbehandlung" bei acht Tage alten Säuglingen überhaupt möglich ist. Denn Aufsichtsbehörden und der Hersteller räumen seit neuestem ein, dass die Wirkung der Creme Emla, die bei diesem Eingriff meist zur lokalen Betäubung eingesetzt wird, wissenschaftlich nicht ausreichend belegt ist. Das gleiche gilt für die Unbedenklichkeit.

Die Abgeordneten des Bundestags hatten sich vor der Abstimmung über die Schmerzbehandlung informiert. Vom Rechtsausschuss waren dazu Experten aufgetreten, danach hatte der Ausschuss empfohlen, den Gesetzentwurf anzunehmen. Wichtig für diese Entscheidung war vor allem die Stellungnahme von Kristof Graf gewesen, dem Direktor des Jüdischen Krankenhauses in Berlin. Der Herzspezialist hatte berichtet, dass von den Chirurgen des Krankenhauses von 2003 bis 2012 insgesamt 385 Beschneidungen von jüdischen Jungen innerhalb der ersten zwei Lebenswochen vorgenommen wurden. Nach der jüdischen Tradition sollen die Neugeborenen am achten Tag beschnitten werden.

Wie Graf den Parlamentariern berichtete, werden die Säuglinge bis zum vierzehnten Lebenstag am Penis lokal mit der Creme Emla betäubt. Soll die Beschneidung später stattfinden - etwa weil die Neugeborenen krank sind -, findet eine Vollnarkose statt. Aufgrund der Risiken einer solchen Anästhesie würden Eltern jedoch deutlich darauf hingewiesen, dass eine Beschneidung dann erst nach dem ersten Lebensjahr stattfinden sollte.

Die Erfahrungen der Chirurgen zeigen Graf zufolge, dass die Lokalanästhesie mit Emla zuverlässig wirke, wenn sie auch nicht mit der Vollnarkose vergleichbar sei. "Wir haben mit der lokalen Anästhesie bei Neugeborenen sehr, sehr gute Erfahrungen gemacht."

Für die Berliner Experten belegen das "weiche Parameter bei Operationen, die als Indikatoren für ein Wohlbefinden beobachtet werden". Dazu gehört, dass die Kinder sofort zu Schreien aufhören, wenn sie wieder im Arm der Mutter sind, rasches Trinken und spontanes Urinieren - Graf zufolge Zeichen für Entspannung. Komplikationen seien äußerst selten. Wichtig sei es jedoch, die Creme mindestens eine halbe Stunde vor dem Eingriff anzuwenden und nach der Beschneidung noch einmal auf die Wunde selbst aufzutragen.

Überzeugende Stellungnahme

Zwar wurden bei der Anhörung vor dem Rechtsausschuss auch Zweifel angemeldet. So hatte etwa der Jurist Reinhard Merkel von der Universität Hamburg, Mitglied im Ethikrat, darauf hingewiesen, dass eine australische Studie von 2012 zu dem Schluss gekommen war, die Wirkung von Emla sei nicht ausreichend für eine lokale Betäubung bei der Beschneidung Neugeborener. Und Wolfram Hartmann, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, hatte festgestellt: "Es geht nicht um Schmerzlinderung, sondern es geht um Schmerzvermeidung."

Die Stellungnahme des Kardiologen vom Jüdischen Krankenhaus aber war für die Mehrheit im Rechtsausschuss und letztlich im Bundestag offenbar überzeugend. Die Beschneidung von Neugeborenen am achten Tag nach der Geburt, so ihr Eindruck, lässt sich nach den ärztlichen Regeln der Kunst vornehmen - inklusive einer ausreichenden Anästhesie. Sonst wäre sie im Rahmen des neuen Gesetzes eigentlich nicht legal.

Das aber stellt eine Anästhesistin aus Schwentinental bei Kiel in Frage. Im Beipackzettel des Medikaments ist Birgit Pabst auf einen seltsamen Umstand gestoßen. Dort heißt es: "Emla sollte bei Kindern unter 12 Jahren nicht auf der genitalen Schleimhaut angewendet werden. Bei der Beschneidung von Neugeborenen hat sich die Anwendung von 1 g Emla allerdings als unbedenklich erwiesen." Eine entsprechende Formulierung enthalten auch die Fachinformationen für den Arzt.

Dieser Unbedenklichkeitshinweis lässt sich so interpretieren, dass es sich bei der Anwendung zur Beschneidung um eine zugelassene Indikation handelt, sagt die Ärztin. Demnach rät der Hersteller also von einem Einsatz ab, wie er bei einer Beschneidung vorgenommen wird - außer es handelt sich eben um eine Beschneidung.

Verschwörungstheorie oder berechtigte Zweifel?

Es geht Pabst nicht um Argumente wie Religionsfreiheit oder den - noch anhaltenden - Streit der Juristen über die Verfassungsmäßigkeit des neuen Gesetzes. Es gehe ihr, sagt sie, einzig und allein um die Frage, ob Emla den Neugeborenen die Schmerzen erspart und ob die Creme für die Neugeborenenbeschneidung, insbesondere für eine Verwendung wie Kristof Graf sie empfiehlt, zugelassen und ungefährlich ist.

Erst auf hartnäckiges Nachfragen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) informierte die Behörde die Anästhesistin schließlich darüber, wie es zu dem Unbedenklichkeitshinweis gekommen war. Er beruht auf einer Doktorarbeit an der University of Toronto, Kanada, aus dem Jahre 1995, die von dem jüdischen Kinderarzt und Musiker Gideon Koren betreut wurde. 1997 wurden die Daten im New England Journal of Medicine veröffentlicht.

38 Neugeborene waren unter einer lokalen Betäubung beschnitten worden, mögliche Schmerzreaktionen waren mit denen von 30 Säuglingen verglichen, die den Eingriff ohne Betäubung erlebten. Ähnlich wie die Chirurgen im Jüdischen Krankenhaus Berlin verzogen die betäubten Kinder während der Operation weniger ihr Gesicht, sie schrien weniger und wiesen eine niedrigere Herzfrequenz auf als nicht betäubte Neugeborene. Unterstützt wurde die Doktorarbeit vom Emla-Hersteller Astra und der kanadischen Vereinigung der Arzneimittelhersteller.

"Diese Studie reicht nicht aus"

"Eine einzige, winzige, von der Pharmaindustrie unterstützte Doktorarbeit, die weiche Parameter verwendet, reicht sicher nicht aus, um einen solchen Unbedenklichkeitshinweis auf den Beipackzettel zu schreiben", sagt Pabst. "Die Formulierung entspricht meiner Meinung nach außerdem einer Indikationserweiterung. Und dafür muss nach Arzneimittelrecht ein eigener vollständiger Zulassungsantrag gestellt werden. Das ist hier nicht passiert."

Als ausreichende Grundlage einer Indikationserweiterung würde auch Jürgen Windeler vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) diese eine Studie nicht betrachten. "Es ist schon merkwürdig, dass die Creme für Kinder unter 12 Jahre nicht auf der genitalen Schleimhaut angewendet werden soll, aber bei neugeborenen Jungen schon", wundert sich Windeler. Nach den Kriterien des IQWiG sind üblicherweise zwei Studien erforderlich, um einen Nutzen positiv zu bewerten. "Es gibt eine Ausnahmeregelung", sagt Windeler. "Wenn eine Studie besonders gut, groß und aussagefähig ist, dann kann man sagen, der Nutzen ist belegt. Diese Kriterien sehe ich bei der kanadischen Studie nicht erfüllt."

Über Monate hat sich die Korrespondenz von Birigt Pabst mit dem BfArM hingezogen, sie hat Kontakt mit dem Zulassungsinhaber von Emla, AstraZeneca, aufgenommen, und sich wiederholt an Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) gewandt. Auf den ersten Blick könnte man fast den Eindruck gewinnen, hier sei eine besessene Verschwörungstheoretikerin am Werk.

Doch dem ist nicht so. Pabst weiß wovon sie spricht, seit 26 Jahren arbeitet sie als Anästhesistin. Es geht ihr ausschließlich darum, darauf hinzuweisen, dass die Betäubung von Neugeborenen heikel ist. Verlässlich ist eigentlich nur die Vollnarkose - aber die ist riskant. Das sagt auch Kristof Graf vom Jüdischen Krankenhaus.

Lokale Betäubungen sind bei Säuglingen schwer zu steuern und sollten nur in besonderen Situationen stattfinden. Und in Berlin verstoßen die Chirurgen darüber hinaus klar gegen die Anweisungen des Herstellers, wenn die Creme direkt nach der Operation noch einmal aufgetragen wird - noch dazu direkt auf die Wunde.

Im März teilte das BfArM Pabst schließlich mit, dass der Zulassungsinhaber AstraZeneca beabsichtige, den Unbedenklichkeitshinweis in den Informationsblättern an eine andere Stelle zu verschieben, so dass deutlicher würde, dass es sich nicht um eine Erweiterung der Anwendungen handelt.

Das genügte Birgit Pabst nicht. Im Juli schließlich legte sie Fachaufsichtsbeschwerde beim Bundesministerium für Gesundheit gegen die Untätigkeit des BfArM ein.

Einige Tage darauf wurden neue Beipackzettel und Fachinformationen veröffentlicht, in denen der Hinweis, die Verwendung bei der Beschneidung Neugeborener sei unbedenklich, fehlt. Lediglich in den Fachinformationen wird nun recht ausführlich auf die kanadische Studie hingewiesen, allerdings ohne Angabe des relativ hohen Alters der Studie. (Die Informationen sind hier zu finden.)

Mit dem Engagement von Pabst hat die Veränderung offiziell nichts zu tun. Wie Zulassungsinhaber AstraZeneca und das BfArM SZ.de mitteilten, sei diese aufgrund einer routinemäßigen Überprüfung der Arzneimittelangaben durch die CMDh (Koordinationsgruppe für Verfahren der gegenseitigen Anerkennung und dezentrale Verfahren) der Europäischen Arzneimittel-Agentur erfolgt.

Demnach seien die Beipackzettel und Fachinformationen von lidocainhaltigen Medikamenten wie Emla, die bei Kindern eingesetzt werden, überprüft worden, mit dem Ergebnis: "Hinweise auf den Gebrauch von Emla zur Beschneidung von Jungen sollten entfernt werden."

"Effekte nicht ausreichend, um ethisch akzeptabel zu sein"

Darüber hinaus haben die Experten zu diesem Einsatz festgestellt: "Sogar wenn Emla-Creme Schmerzen statistisch signifikant verringert, erscheinen die beobachteten Effekt nicht ausreichend, um ethisch akzeptabel zu sein". Deshalb, so ihre Schlussfolgerung, "können Informationen zum Einsatz von Emla bei der Beschneidung in den nationalen Fachinformationen nicht empfohlen werden".

Damit können sich Ärzte und Mohalim - jüdische Beschneider - in Deutschland in Zukunft nicht mehr offiziell auf den Hersteller von Emla berufen: Weder Wirkung noch Unbedenklichkeit sind für die Anwendung bei der Neugeborenenbeschneidung wissenschaftlich ausreichend belegt.

Was aber ist dann mit der Betäubung bei der Beschneidung am achten Tag nach den Regeln der ärztlichen Kunst?

Kristof Graf vom Jüdischen Krankenhaus in Berlin hält sie weiterhin für gewährleistet. "Natürlich kann niemand objektiv sicher feststellen, wie viel Schmerzen ein Neugeborener hat", sagte Graf SZ.de. "Wenn Sie so ein Kind nur festhalten, weint es manchmal schon. Wir wissen aber von Erwachsenen und Kindern, die schon sprechen können, dass Emla wirkt." Außerdem könnten die Chirurgen im Jüdischen Krankenhaus auf dreißigjährige Erfahrungen mit Beschneidungen zurückgreifen. "Wenn Emla fach- und sachgerecht angewendet wird, ist es relativ unkritisch, geht schnell und die Kinder entspannen sich im Arm der Mutter rasch wieder." Hätten sie schlimme Schmerzen, würden sie auch dort weiter schreien.

"Ich würde nie sagen, dass die Wirkung von Emla garantiert ist", räumt Graf ein. "Aber wir haben wirklich gute Erfahrungen gemacht. Und es gibt leider keine Alternative, die nicht mit einem viel höheren Risiko für die Gesundheit und sogar das Leben des Kindes verbunden ist."

Kritiker der Beschneidung aus religiösen Gründen dürften hier einwenden, dass sich das Risiko völlig ausschließen ließe, wenn der Eingriff deutlich später vorgenommen würde - oder gar nicht. Das aber ist für gläubige Juden keine Option, außer, das Kind ist "zu schwächlich", heißt es beim Zentralrat der Juden in Deutschland. Dann kann die Beschneidung auf einen späteren Termin verschoben werden.

Nach der Änderung im Beipackzettel gibt es allerdings ein weiteres, prinzipielles Problem. Nun ist die Anwendung der Creme bei der Beschneidung Neugeborener definitiv ein sogenannter Off-Label-Use, eine nicht zugelassene Anwendung. Die steht einem Arzt durchaus frei, allerdings haftet er dann persönlich für Nebenwirkungen. Bedingung ist, dass die Patienten - oder in diesem Falle die Eltern - über diese Tatsache und die Risiken, die damit zusammenhängen, informiert werden. Und über die Einschätzung, dass das Mittel nur eingeschränkt zu wirken scheint - also Schmerzen wahrscheinlich lindern, aber nicht verhindern.

Doch auch diese Voraussetzung hält Graf für erfüllt. "Wir sagen den Eltern, dass wir aufgrund unserer Erfahrung davon ausgehen, dass die Behandlung zu helfen scheint und so, wie wir sie vornehmen, offenbar sehr sicher ist. Auch wenn das so nicht auf dem Beipackzettel steht." Er vermutet, dass es dem Zulassungsinhaber darum gehen könnte, vor Schadensersatzansprüchen sicher zu sein - etwa wenn jemand nach einer Beschneidung behauptet, dass das Kind starke Schmerzen gehabt hätte. Für die Ärzte, so Graf, sei die Behandlung von Patienten immer ein Abwägen zwischen Nutzen und Risiko. Und für Neugeborene, die beschnitten werden sollen, überwiegen den Medizinern am Jüdischen Krankenhaus zufolge die Vorteile von Emla. Geklärt werden muss nun allerdings, wie es sich bei der Haftungsfrage verhält, wenn ein nichtärztlicher Beschneider den Eingriff vornimmt.

Für jüdische Eltern, die ihre Jungen am achten Tag beschneiden lassen wollen, stellt sich demnach die Frage, wie sehr sie sich auf den Off-Label-Use von Emla verlassen wollen, der nach offizieller Einschätzung keine ausreichende Schmerzminderung darstellt.

Und die Abgeordneten des Deutschen Bundestags müssen vielleicht darüber nachdenken, ob der Einsatz der Salbe tatsächlich eine Betäubung nach den Regeln der ärztlichen Kunst ist.

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