Archäologie-Serie:Das Geheimnis des Entenmanns

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Die Stele ist eines von wenigen Zeugnissen der Isthmus-Schrift. (Foto: gemeinfrei)

Von der Isthmus-Schrift gibt es nur sehr wenige Zeugnisse. Eines davon ist eine seltsame Enten-Statuette, die im Schlamm in Mexiko entdeckt wurde.

Von Esther Widmann

Der eine Mann trägt einen Kopfschmuck und wurde im Schlamm gefunden. Der andere steckt in einer Art Entenkostüm und lag auf einem Acker. Gut, dass beide aus Stein sind, sonst hätten sie wohl die 2000 Jahre nicht überstanden. Und die "Isthmus-Schrift", die sich auf beiden Objekten findet, wäre unbekannt. Denn außer der Stele mit dem Kopfschmuck-Mann, auf der 500 Zeichen in senkrechten Reihen eingeritzt sind und der Statuette des Entenmannes mit weiteren 70 Symbolen, die beide im heutigen Mexiko gefunden wurden, sind so gut wie keine Zeugnisse dieser Schrift erhalten.

Mittelamerika ist neben Mesopotamien und China eine von drei Regionen auf der Welt, in denen unabhängig voneinander die Schrift erfunden wurde. Oft entwickelten sich verschiedene Schriftsysteme nebeneinander; viele starben nach ein paar Hundert Jahren wieder aus. So scheint es auch mit der Isthmus-Schrift gewesen zu sein. Sie wird auch als "epi-olmekisch" bezeichnet, nach der archäologischen Phase, in der sie erfunden wurde. Zu dieser Zeit, etwa 300 vor Christus bis 250 nach Christus waren die meisten Menschen in Mittelamerika Bauern und bauten Mais, Bohnen, Kürbisse und Chilis an. In den Städten aber residierten Kleinkönige - und sie waren es, die die Schrift als Mittel zur Legitimation der Herrschaft einsetzten, wie Nikolai Grube erklärt. Er lehrt an der Universität Bonn Altamerikanistik und erforscht die Schriftsysteme des Kontinents.

Bei der Isthmus-Schrift steht die Forschung noch ganz am Anfang. Nicht einmal die genaue Anzahl der Zeichen, die in dieser Schrift benutzt wurden, ist gewiss. Grube geht von mindestens 400 aus. "Das deutet darauf hin, dass es sich um keine reine Silbenschrift handelt, sondern - wie bei der Maya-Schrift auch - um ein logosyllabisches System", sagt Grube, also eine Kombination aus Zeichen für Silben und solchen, die ganze Worte darstellen. Das Einzige, was sich in den Texten identifizieren lässt, sind zwei Datumsangaben: Juli 156 vor Christus auf der Stele, März 162 vor Christus auf der Figur. Lesbar sind sie, weil die Epi-Olmeken bereits das gleiche kalendarische System verwendet haben wie später die Maya.

Als die Stele 1986 aus dem Schlamm eines Flusses im mexikanischen Bundesstaat Veracruz geborgen wurde, war sie eine Sensation: Erstmals gab es einen längeren Text, der eine Entzifferung möglich erscheinen ließ. Und tatsächlich präsentierten John Justeson und Terrence Kaufman 1993 in der Zeitschrift Science eine teilweise Übersetzung des Textes. Die wenigsten Kollegen waren jedoch überzeugt: Justeson und Kaufman waren von einer bestimmten Grammatik ausgegangen und hatten diese auf wundersame Weise im Text bestätigt gefunden. Grube nennt den Entzifferungsversuch "nicht ausgereift". Es fehle die Grundlage jeder Schriftentzifferung: "Man müsste erst einmal ganz systematisch die Verteilung von Zeichen untersuchen, um vielleicht Zeichen für Pronomina, Verbalsuffixe und Präpositionen zu identifizieren", sagt er. Ein Anhaltspunkt könnte sein, dass die heute noch in der Region gesprochenen Sprachen mit der epi-olmekischen verwandt sein dürften. Grube hofft, dass eines Tages einer seiner Studenten den Entenmann zum Sprechen bringen wird.

© SZ vom 08.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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