Zertifikate:Die Rückkehr der riskanten Wetten

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Niedrige Zinsen, hohe Unsicherheit - wie soll man da noch sein Geld investieren? In der "Geldwerkstatt" erklären wir aktuelle Fragen zur Geldanlage. (Foto: SZ-Grafik)

In der Finanzkrise verloren etliche Sparer viel Geld mit dieser Anlageform. Jetzt bieten die Banken immer mehr solche spekulativen Produkte an.

Von Lukas Zdrzalek, München

Und dann sind sie weg gewesen. Gut 25 000 Euro, die Michael Walter angespart hatte, um das Studium seiner Tochter zu finanzieren. 25 000 Euro, von denen Michael Walter nicht weiß, was mit ihnen passiert ist, als er im Frühjahr 2009 auf seinen Bankauszug blickt. Als er sieht, dass die Hälfte der 50 000 Euro fehlt, die er einmal seiner Bank anvertraut hatte, einem der größten deutschen Geldhäuser. "Ich war erst mal wie gelähmt", sagt Walter. Sein Kundenberater hatte ihm doch garantiert, dass er in ein sicheres Anlageprodukt investieren würde. Nach dem ersten Schock beginnt Walter zu recherchieren, gibt in einer Internet-Suchmaschine die Abkürzung des Finanzprodukts ein, die auf dem Bankauszug steht, acht Buchstaben ist sie lang. Ein paar Klicks später weiß Walter: Er hatte ein Zertifikat gekauft, ist quasi eine Finanzwette eingegangen.

Etliche deutsche Sparer wie Walter haben in der Finanzkrise viel Geld mit Zertifikaten verloren. Am bekanntesten ist der Fall der Anleger, die Zertifikate der US-Investmentbank Lehman Brothers gekauft hatten - und keinen einzigen Cent wiederbekommen, als das Geldhaus 2008 bankrott geht. Trotz des Fiaskos kehren die Finanzwetten jetzt im großen Stil zurück, an die Bankschalter und Kundenberater-Tische der Republik. Die Zahl dieser Produkte ist in den vergangenen Jahren um mehr als 200 Prozent gestiegen: 2010 boten Geldhäuser noch 400 000 Zertifikate an, 2016 waren es schon 1,25 Millionen. Die Institute werben mit hohen Renditen, teils sind 100 Prozent Gewinn drin. Anleger sollten sich davon nicht blenden lassen: Die Produkte sind komplex und hochriskant - und für Kleinsparer quasi ungeeignet.

Michael Walter, der seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, recherchiert im Frühjahr 2009 weiter, um zu verstehen, was genau ein Zertifikat ist. Der ehemalige Siemens-Manager sagt: "Mein Berater hat es mir nicht erklärt, noch nicht einmal das Wort Zertifikat in den Mund genommen." Walter findet heraus, dass er eine Finanzwette auf den Euro Stoxx 50 gekauft hatte, den Aktienindex mit den 50 wichtigsten Börsen-Konzernen Europas. Bei Walter ist der Euro Stoxx 50 der sogenannte Basiswert des Zertifikats, in anderen Fällen kann das ein Rohstoff oder eine Aktie sein, etwa die von Volkswagen. Vom Basiswert hängt ab, ob ein Anleger Gewinn oder Verlust macht. Investoren können erstens darauf wetten, dass der Basiswert an Wert verliert. Zweitens, dass er an Wert gewinnt, und drittens, dass sein Wert ungefähr stabil bleibt. Liegt ein Anleger richtig, kann die Rendite eines Zertifikats über dem mit dem Basiswert erzielten Gewinn liegen. Liegt er falsch, verliert er seinen Einsatz in Teilen oder sogar ganz. Michael Walter hatte auf einen steigenden Kurs des Euro Stoxx 50 gesetzt - während der Finanzkrise stürzte der Index aber um mehr als 50 Prozent ab.

Wer hier mitspielt, sollte ein gewisses Vermögen besitzen, um Verluste verkraften zu können

Steigt der Kurs des Basiswerts, fällt er, bleibt er relativ konstant? Um diese Fragen beantworten und damit Entscheidungen treffen zu können, "müssen sich Anleger eine fundierte Meinung zu einem Basiswert bilden", sagt Stephanie Heise, Bereichsleiterin Finanzen der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. Das kann sehr zeitaufwendig und komplex sein. Ist der Basiswert etwa ein börsennotierter Konzern, "müssen Investoren die Bilanz, die Produkte und die Konkurrenten des Unternehmens kennen, um dessen Aussichten einschätzen zu können", sagt Heise. Selbst eine tief greifende Analyse schützt nicht vor Fehlurteilen, sogar Profi-Investoren liegen oft daneben. Ein Skandal wie die Dieselaffäre bei Volkswagen kann eine Aktie plötzlich einbrechen lassen. Zertifikate stellen damit einen hohen Anspruch an Sparer.

Zertifikate sind in der Regel auf eine bestimmte Zeit begrenzt; im Fall von Michael Walter waren es drei Jahre. Zertifikate sind deshalb viel riskanter als beispielsweise Aktien. Läuft ein Zertifikat direkt nach einem Kursabsturz aus, bleiben Anleger auf den Verlusten sitzen.

Besser für Sparer geeignet sind Aktien; bei ihnen können die Investoren ein Tief einfach mal aussitzen und abwarten, bis der Kurs wieder nach oben geht. Zwar kann niemand Sparern eine Garantie für steigende Notierungen geben, aber in der Regel hat sich ein Investment in Aktien langfristig, also über Jahrzehnte betrachtet, ausgezahlt.

Zertifikate bergen noch eine weitere Gefahr: Sie unterliegen dem sogenannten Emittenten-Risiko. Geht die Bank pleite, die die Zertifikate herausgegeben hat, sind die Investoren ihr Geld los. Auf diese Weise haben etwa Anleger Erspartes verloren, die Zertifikate der untergegangenen US-Bank Lehman Brothers gekauft hatten. Investoren sollten sich deshalb darüber informieren, wie sicher ein Geldhaus ist, etwa mit Hilfe von Ratingagenturen. Allerdings: "Der Fall Lehman zeigt jedoch, dass die Analysen der Ratingagenturen nur Indikatoren, aber keine Garantien sind", sagt Max Lenzenhuber, Vermögensverwalter aus Jülich bei Köln. Ratingagenturen hatten das Insolvenzrisiko der amerikanischen Bank als gering eingeschätzt - bis kurz vor Pleite.

Extrem komplex, sehr risikoreich: "Zertifikate dienen nicht dem langfristigen Vermögensaufbau, sondern nur der kurzfristigen Spekulation", erklärt Verbraucherschützerin Heise. "Daher eignen sie sich in der Regel nicht für Kleinanleger." Wer trotzdem investieren möchte, "sollte ein gewisses Vermögen besitzen", sagt Harald Berlinicke, Experte für alternative Investments der Ratingagentur Scope. Ein gewisses Vermögen, um auch mal hohe Verluste verkraften zu können.

Sparer Michael Walter hat sich geschworen, nie wieder Zertifikate zu kaufen. Mit seinem Geldhaus liegt der 70-Jährige bis heute im Clinch. "Am meisten enttäuscht mich, dass sich das Institut nie entschuldigt hat", sagt er. Sein Kundenberater wollte das Vertrauen übrigens wiederherstellen, indem er Walter gleich noch ein paar neue Geldanlagetipps gab.

© SZ vom 16.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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