Taiwan:Gefährliche Umarmung

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Taiwans Wirtschaftsboom ist zu Ende. Um so mehr hoffte das Land auf die Annäherung an China, doch nun jagt der große Bruder vielen Bewohnern Angst ein.

Janis Vougioukas

Die Luft ist feucht. In der Nacht hatte es geregnet, und jetzt, am Morgen, liegt der Nebel dicht über der Stadt; Taipeh leuchtet in weißem Licht. Die ersten Reisegruppen warten schon auf der anderen Straßenseite. Einige haben sich Müllsäcke gegen den Regen übergestülpt, sie halten Digitalkameras in den Händen und drängen sich um ihren Reiseleiter. Die Besucher vom chinesischen Festland erkennt man gleich, die Reiseführer tragen bunte Fähnchen und sie sind von weitem zu hören.

Millionenstadt Taipeh mit dem Wolkenkratzer Taipeh 101. (Foto: Foto: AP)

Es ist kein guter Tag für Erinnerungsfotos. Die feuchte Fassade des Hochhauses glänzt wie frisch lackiert. Doch der Nebel ist so dicht, dass man gerade die unteren 30 Stockwerke erkennen kann, dann verschwindet der Turm im weißen Dunst.

Schlusslicht unter den Boomstaaten

Taipeh 101 gehört zu den weltweit höchsten Wolkenkratzern: 508 Meter, inklusive Antenne. Kein anderes Gebäude in Taiwan ist so bekannt, keines so symbolträchtig. Bau und Planung dauerten fast zehn Jahre. "Der Turm sieht wie ein Bambus aus", sagte der Architekt damals. Und als das Hochhaus Ende 2004 endlich eingeweiht wurde, war er für viele längst ein Symbol geworden: Für ein neues Taiwan, für ein nationales Selbstbewusstsein und für eine starke Wirtschaft.

Jetzt stockt Taiwans Wirtschaft, und in der Stadt hält sich hartnäckig das Gerücht, dass viele der 101 Stockwerke nur unter großer Anstrengung vermietet werden konnten. Tatsächlich sind die Wirtschaftsdaten gar nicht schlecht, gerade im Vergleich mit Europa. Das Wachstum lag im vergangenen Jahr bei 5,7 Prozent.

Doch unter den asiatischen Boomstaaten liegt Taiwan auf dem letzten Platz. Das Selbstvertrauen ist angekratzt. Der einstige Tigerstaat ist zur zahnlosen Hauskatze geworden. Auch deshalb stehen jetzt unten die Brüder und Schwestern vom chinesischen Festland.

Linienflüge nach China

Als sich Ende der vierziger Jahre abzeichnete, dass Mao Zedong den chinesischen Bürgerkrieg gewinnen würde, flüchtete Chiang Kai-shek mit zwei Millionen Anhängern auf die kleine Insel vor dem chinesischen Festland, wo er die Republik China ausrief. Dort warteten die Nationalisten auf einen günstigen Zeitpunkt, um zum Festland zurückzukehren. 23 Millionen Menschen wohnen heute auf Taiwan und beobachten den großen Bruder noch immer mit einer Mischung aus Faszination und Angst.

Im März gewann Präsidentschaftskandidat Ma Ying-jeou die Wahlen mit dem Versprechen, die Beziehungen zur Volksrepublik zu verbessern. Seitdem hat sich viel geändert. Erstmals seit dem Bürgerkrieg gibt es direkte Linienflüge. Der Waren- und Kapitalverkehr wurde vereinfacht. Seit Juni dürfen chinesische Reisegruppen Taiwan besuchen. Die Zeitungen in Peking zeigten damals Fotos von chinesischen Urlaubern, die in großen Gruppen aus Flugzeugen drängten, eine Schlagzeile lautete: "Zuerst besetzen wir ihre Einkaufszentren."

Die taiwanesische Wirtschaft hatte große Hoffnungen auf die engere Anbindung an die Volksrepublik. Doch viele Erwartungen wurden enttäuscht. Und die Annäherung an China hat das Land geteilt.

Lesen Sie im zweiten Teil, warum Taiwans Wirtschaft zu blühen begann - und wie China darauf reagierte.

Huang Kuan-hua hat ein rundliches Gesicht, seine Haare sind kurz geschnitten und stehen aufrecht oben. Huang ist ein freundlicher junger Mann, der viel lacht, dabei wirft er den Kopf zurück und wenn man ihm direkt gegenüber sitzt, kann man dann sehr tief in beide Nasenlöcher blicken. Eben hatte er gesagt, dass seine Firma im vergangenen Jahr 400 Millionen Dollar Umsatz erreicht hatte. Er ist bestens gelaunt.

Wer Taiwans Wirtschaft verstehen will, muss sich mit einem wie Huang unterhalten, der gerade 32 Jahre alt geworden ist und sich darauf vorbereitet, die Führung eines gewaltigen Familienimperiums zu übernehmen, das seine Eltern ein Jahr vor seiner Geburt aus dem Nichts gegründet hatten. 10.000 Mitarbeiter beschäftigt die Firma inzwischen, doch der Name New Wide Group ist auch in Taiwan fast unbekannt geblieben.

Erfolg mit Forschung

"Als meine Eltern anfingen, entstanden gerade im ganzen Land Tausende kleine Betriebe", sagt Huang. Es war die Zeit, als der japanische Aufschwung erste Schwächen zeigt; die Welt brauchte neue Lieferanten. Huangs Vater hatte nach dem Militärdienst in einer Färberei gearbeitet. Er heiratete ein Mädchen aus einer alt-taiwanesischen Familie. Und als sie ihr Buchhalterstudium beendete, entschieden sich beide, ihr eigenes Unternehmen zu gründen, das sie New Wide nannten. Sie stellten einen Mitarbeiter ein und richteten in dem kleinen Raum neben dem Schlafzimmer ein Büro ein.

Zunächst handelte New Wide mit Stoffen, die sie bei den kleinen Familienbetrieben einkauften und über Mittelsmänner exportierten. Die Bestellungen aus dem Ausland kamen per Telex. "Es ging damals noch nicht um Qualität, nur Geschwindigkeit und Kosten zählten", sagt Huang. Und Taiwan war schneller und billiger als alle anderen.

Nach zehn Jahren war die Firma der Eltern auf 25 Mitarbeiter gewachsen. Es gab sogar eine kleine Forschungsabteilung. Und die brachte eines Tages den Durchbruch.

Vom Billighersteller zum Hightech-Standort

Im Westen waren damals gerade diese engen Turnhosen modern, bei denen die Füße unten in zwei Schlaufen steckten. Für die Textilbranche war das eine Herausforderung. Der Stoff musste in jede Richtung elastisch sein. Die meisten Hersteller benutzten dafür Mischgewebe, doch die sind nicht leicht zu färben, da jedes Material unterschiedlich auf Chemikalien reagiert. Mitte der achtziger Jahre fand New Wide dafür eine Lösung, und plötzlich konnte die kleine Firma gar nicht mehr schnell genug wachsen.

Taiwans wirtschaftlicher Aufstieg begann genau wie in China als Billighersteller mit wild wachsender Privatwirtschaft. Die Firmen auf der kleinen Insel hatten aber immer auch eigene Ideen und entwickelten Tausende kreative Patente - so wurde die T-Shirt- und Spielzeugfabrik Taiwan zu einem Hightech-Standort. Der schnelle wirtschaftliche Aufstieg machte die Inselrepublik in wenigen Jahren zu einem wohlhabenden Land. Doch die steigenden Löhne setzten die Billighersteller unter großen Druck. Etwa zur gleichen Zeit begann China, seine abgeschottete Wirtschaft zu öffnen. Die Unternehmer aus Hongkong und Taiwan waren die ersten, die das gewaltige Potential erkannten: ein hungriges Riesenland mit Millionen billigen Arbeitskräften.

Offiziell befanden sich beide Länder damals noch im Kriegszustand. Und Taiwans Regierung hatte ihren Geschäftsleuten Investitionen auf dem Gebiet des kommunistischen Erzfeindes verboten. Der Trend war aber nicht aufzuhalten. "Viele Unternehmer kauften damals Diamanten und schmuggelten sie in Zahnpastatuben über die Grenze", sagt Huang. Er macht eine kurze Pause. "Unsere Firma hat das natürlich nicht gemacht." Er lacht jetzt wieder und es bleibt unklar, ob das ein Scherz war oder nicht.

Lesen Sie im dritten Teil, wie die Öffnung Chinas die taiwanesische Wirtschaft unter Druck setzte.

Erst mit der Öffnung der chinesischen Wirtschaft wurden Taiwans Firmen zu internationalen Großkonzernen, die Kombination aus taiwanesischem Kapital und Management und chinesischen Arbeitskräften schien unschlagbar. Allein in Shanghai arbeiten heute rund eine halbe Millionen Geschäftsleute aus Taiwan.

New Wide produziert inzwischen für Firmen wie Adidas, Penny, Wal-Mart und Tchibo - eigentlich alle großen Handelsketten und Bekleidungskonzerne. Zur Firma gehören sieben Fabriken in Taiwan und mehreren Standorten in China. Seit fünf Jahren produziert New Wide auch in Kambodscha, Lesotho und Kenia, schließlich sind auch in China die Gehälter in den letzten Jahren gestiegen. "In Lesotho beschäftigen wir eine kleine Armee mit Maschinengewehren, um die Fabrik zu schützen. Aber dort gibt es wenigstens keine Zölle und Textilquoten", sagt Huang.

Seit Jahren wächst die Wirtschaft auf dem Festland viel schneller als auf der kleinen Insel. "Es gibt inzwischen viele Geschäftsleute, die sich auch hier eine strenge Hand wünschen", sagt Huang. Trotzdem glaubt er nicht, dass eine weitere Annäherung an die Volksrepublik seinem Land hilft. "Die Wirtschaft ist schon jetzt so eng verwachsen, für uns ändert sich eigentlich nichts."

Angst vor Chinas Zorn

Ende Oktober demonstrierten eine halbe Millionen Menschen in Taipeh gegen engere Beziehungen zu China. Dann musste sich der Pekinger Verhandlungsführer Chen Yunlin bis tief in die Nacht in einem Taipeher Restaurant verschanzen, weil vor den Türen eine wütende Menschenmenge demonstrierte. Die Finanzkrise hat die Furcht vor Billigkonkurrenz bei den Arbeitern und einfachen Angestellten noch verstärkt.

Gleichzeitig ist China auch Taiwans größtes Problem. "Der wachsende Einfluss der Kommunistischen Regierung hat dazu geführt, dass Taiwan international immer weiter marginalisiert worden ist", sagt Darson Chiu vom Taiwan Institute of Economic Research.

Kein Land wagt es heute zum Beispiel, Zollabkommen mit Taiwan abzuschließen. Alle fürchten sich vor dem Zorn der Volksrepublik. "Es ist riskant, zu große Hoffnungen auf China zu setzen", warnt Chiu. Und die Zahlen seines Instituts scheinen das belegen. Der erwartete Zustrom chinesischer Touristen ist bisher ausgeblieben. Gerade einmal 0,1 Prozent Wachstum haben die chinesischen Reisegruppen dem Land bisher gebracht. Vielen Taiwanern geht die Annäherung an den großen Bruder inzwischen zu schnell.

Das Hauptquartier der Democratic Progressive Party (DPP) liegt in einem heruntergekommenen Viertel mit ergrauten Hochhäusern. Gleich vor der Tür verläuft eine vierspurige Straße. Es regnet schon wieder, und das Wasser hat sich in den Schlaglöchern zu tiefen Pfützen angestaut; jedes Auto spritzt eine Fontäne auf den Gehweg.

"Die Geschwindigkeit ist entscheidend"

Seit der Wahlniederlage sitzt die DPP wieder auf der Oppositionsbank. Doch Parteichefin Tsai Ying-wen gilt als eine der größten Kritikerinnen des Entspannungskurses von Präsident Ma Ying-jeou, und die Demonstrationen der vergangenen Wochen haben die Stimmung wieder zu Gunsten der DPP verschoben. "Je enger wir mit China zusammenrücken, desto mehr geraten bei uns die Löhne unter Druck", sagt Tsai, auch Sicherheitsfragen müsse man berücksichtigen.

"Taiwan ist so klein. Wenn wir nicht aufpassen, werden wir eines Tages vom großen China verschluckt." Wenn man ihr so zuhört klingt das wie eine sehr reale Bedrohung.

"Die Geschwindigkeit ist entscheidend", sagt sie, und meint: Es macht gar nichts, wenn sich in den nächstes Jahren nicht mehr verändert.

© SZ vom 15.11.2008/tob - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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