SZ-Serie: Kapitalismus in der Krise:Der ganz banale Wahnsinn

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Das Grundproblem des modernen Wirtschaftssystems: Mensch und Geld passen einfach nicht zusammen.

Patrick Illinger

Mit den Wirren der Finanzkrise verlieren große Zahlen ihren Schrecken. 50 Milliarden Dollar zum Beispiel, das wirkt plötzlich vertraut. Hatten nicht die Lehman Brothers kurz vor Schluss noch für diesen Betrag bei Alain Ducasse gegessen?

Die Evolution hat von Homo sapiens nie verlangt, mit Geld umzugehen. Würden wir sonst eine billige Banane genauer untersuchen, als ein teures Anlageprodukt? (Foto: Foto: ddp)

Oder war das die Summe, die die Bayerische Landesbank verzockt hat? Hat nicht Karl Lauterbach soeben vorgeschlagen, für so viel Geld Flachbildschirme an alle Deutschen zu verteilen? Große Zahlen sind verwirrend. Neurologen wissen es eigentlich: Das menschliche Hirn ist dafür gar nicht zugelassen.

Da helfen auch nüchterne Vergleiche wenig. Etwa, dass Bill Gates ungefähr 50 Milliarden Dollar reich ist, oder dass Länder wie Serbien und Kenia jährlich Waren und Dienstleistungen in dieser Größenordnung erwirtschaften.

Betrugs unbegreiflichen Ausmaßes

So gesehen ist das Ausmaß des Betrugs eines gewissen Bernard Madoff gar nicht wirklich begreifbar. Der vertrauenswürdig wirkende 70-jährige Madoff hat soeben gestanden, über Jahre hinweg Tausende vertrauensvolle Anleger um 50 Milliarden Dollar betrogen zu haben. Madoff hat offenbar nicht das Geld seiner Kunden vermehrt, sondern nur die Zahl seiner Kunden.

Mit dem hinzufließenden Anlagevermögen neuer Anleger hat er die Renditeträume des bestehenden Kundenstamms befriedigt. Die Amerikaner nennen sowas "Ponzi scheme", im Gedenken an den legendär gewordenen Einwanderer Charles Ponzi, der vor 100 Jahren viele Amerikaner um ihre Existenz brachte, mit dem Versprechen, eingezahltes Geld in 90 Tagen zu verdoppeln.

So dreist war Madoff nicht. Dafür betrieb er sein Geschäft deutlich länger als der berüchtigte Vorgänger. Über die Jahre hinweg zockte Madoff in heutiger Kaufkraft gemessen mehr als 300-mal so viel Geld ab wie Ponzi. Ein echter Hammer, wenn man bedenkt, dass Ponzi bis heute als Synonym für derlei Betrügereien steht. Für Madoff muss nun wohl ein besonderer Platz gefunden werden, ganz oben, auf dem Olymp der Schwindler.

Zehn Prozent jedes Jahr, viel mehr als mit gewöhnlichen Aktien zu schaffen ist, das erschien dem amerikanischen Establishment, der Stammkundschaft Madoffs, ebenso unverdächtig wie den Wadenbeißern der US-Börsenaufsicht, der Securities and Exchange Commission.

Natürlich melden sich jetzt Schlauberger zu Wort, die sagen, eine so konstant hohe Rendite, egal ob das World Trade Center gerade zusammenstürzt oder die Dotcom-Blase platzt, dass muss doch gestunken haben. Nun, wenn, dann hat es niemand gerochen. Erst jetzt flog die Sache auf, als die von der Finanzkrise gebeutelte Kundschaft sieben Milliarden Dollar von Madoff zurückhaben wollte. Geld, das er nicht mehr hatte.

Das Erschreckende an diesem Fall ist seine ungeheuerliche Banalität. Bernard Madoff hat nichts von einem Dr. Mabuse. Und seine Kunden waren alles andere als risikolüsterne Zocker. Familien aus Florida sind unter den Geprellten, ebenso wie Wohlfahrtsorganisationen und internationale Bankhäuser.

Wie so oft im Zuge der Finanzkrise ist auch jetzt wieder das Wort "Gier" zu hören. Viele Kommentare hören sich so an, als sei die Finanzwelt im Grunde heil, wären da nicht die Gierigen.

Hilflos im Umgang mit Geld

Investmentbanker, die nur auf ihren Bonus stieren. Skrupellose Immobilienmakler, die Floridas Sümpfe mit überteuerten Reihenhäusern vollpflastern. Und ahnungslose Rentner, die sich nicht mit einem Sparbuch begnügen wollen. Gäbe es die Gier der Menschen nicht, so wird insinuiert, täte der Kapitalismus stets das, was er soll: den Wohlstand aller mehren.

Doch Wahnsinn steckt im System. Der Kapitalismus ist ein explosives Gebräu komplexer Regelkreise, untrennbar verwoben mit den Wirren der menschlichen Psyche.

Menschen sind nicht rational, wenn es um Geld geht. Die Evolution hat von Homo sapiens nie verlangt, mit Geld umzugehen. Würden wir sonst jede 50-Cent-Banane im Gemüseladen genauer untersuchen, als ein 5000-Euro-Anlageprodukt?

Menschen kaufen Kleider für ein halbes Monatsgehalt und fahren danach kilometerweit zum Discounter, weil der Joghurt dort günstiger ist. Ist es mit Vernunft zu erklären, dass Kunden im Supermarkt 14 Prozent mehr Geld ausgeben, wenn die Laufrichtung durch die Regale im Uhrzeigersinn verläuft und nicht andersherum?

Experimente mit Magnetresonanztomographen haben gezeigt, dass Rabattschilder den Gyrus cinguli zwischen den Stirnlappen schwächen, wo rationale Entscheidungen getroffen werden. Und Schnäppchenkäufe aktivieren das gleiche Belohnungssystem im Kopf wie Kokain. Menschen spielen Lotto, je ärmer, desto mehr.

Gleichzeitig zucken die meisten zurück, wenn es ernsthaft etwas zu gewinnen gibt: Ein mathematisch lohnendes Münzwurfspiel, bei dem jeder Wurf mit 50:50-Wahrscheinlichkeit entweder 1,50 Dollar Gewinn bringt oder einen Dollar Verlust, lehnen Probanden in verhaltensökonomischen Experimenten ab. Aber das Wohlergehen im Alter macht man bedenkenlos von undurchschaubaren Wertpapieren abhängig.

Ökonomie im Dilemma

Fast möchte man Mitleid bekommen, mit den Ökonomen, die ihr Fach gerne als Wissenschaft präsentieren und doch ständig daran scheitern, den Irrsinn der realen Welt in Formeln und Gleichungen zu packen. Die Atomphysik wirkt dagegen wie ein Kreuzworträtsel.

Um das Dilemma der Ökonomie zu begreifen, muss man nicht in den Tiefen der Finanzalgorithmen stochern, die vollautomatisch aberwitzige Geldmengen um den Globus pumpen.

Die Absurdität des Kapitalismus zeigt sich an einfachsten Beispielen: Steigt ein Aktienindex in zwei aufeinander folgenden Jahren um je 200 Punkte von 1000 auf 1400 Punkte, so ist das ein großartiger Aufschwung. Steigt der Index im ersten Jahr um 600 Punkte und fällt im Jahr darauf um 200 Punkte, so ist das Ergebnis mathematisch gleich, aber ökonomisch eine Katastrophe.

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In der Ökonomie zählt nicht, was ist, sondern nur der Vergleich. Ein Aktienfonds kann so viel Gewinn abwerfen wie er will, solange er nicht den zugrunde liegenden Basismarkt schlägt, gilt er als Reinfall - egal ob die Investoren eine satte Rendite bekommen haben. Ein Bruttoinlandsprodukt, das weniger stark steigt als im Vorjahr, führt zu hyperaktiven Reaktionen von Finanzpolitikern, die durch ihre Handlungen - oder die begleitende psychologische Symbolik - die unerwünschte Entwicklung oft noch verstärken.

Niemand sollte die Formelwerke der modernen Ökonomie für eine exakte Wissenschaft halten, nur weil es in dieser Disziplin einen Nobelpreis gibt. Die Leistung der Auguren der Finanzwelt beschränkt sich erschreckend oft auf die einhellige Vorhersage, in Zukunft werde es so weitergehen wie jüngst, nur noch stärker. Im Moment überbieten sich Ökonomen mit den düstersten Prognosen. Als der Dax (und weiland der Nemax) im Frühjahr 2000 auf schwindelnde Höhen kletterte, war sich fast kein Anlageberater zu blöde, weitere Aktienkäufe zu empfehlen.

Logik des Misslingens

Dass Menschen zum Umgang mit komplexen Systemen gar nicht befähigt sind, hat die psychologische Forschung längst erwiesen, zum Beispiel Dietrich Dörner mit seinem vor 20 Jahren erschienenen Standardwerk "Die Logik des Misslingens". Dennoch glauben fast alle Akteure der Finanzwelt an monokausale Ursache-Wirkungsbeziehungen und mithin an die Beherrschbarkeit eines Systems wie der Finanzwelt. Wenn dann eine Leitzinssenkung die Krise nicht beseitigt, ist das Staunen groß. Ebenso wie in einer Firma, die versucht, mit reinen Kostensenkungen aus einer strukturellen Umsatzkrise zu kommen.

Fatal dabei ist, dass Menschen zufällige Erfolge und ein glückliches Händchen stets dem eigenen Können zuschreiben. In Boom-Phasen fühlen sich plötzlich Hausfrauen und Schüler wie Investment-Genies. Das wiederum heizt eine überkochende Spekulationsphase erst so richtig an. So war es bei der Dotcom-Krise 2001, und so war es in der amerikanischen Immobilienkrise der letzten Jahre. Umfragen unter kalifornischen Hauskäufern im Jahr 2005 haben gezeigt, dass die Menschen dort ernsthaft glaubten, die Immobilienpreise würden sich binnen zehn Jahren etwa verdreifachen. Kein Wunder, dass jeder versuchte, das größtmögliche Haus zu erwerben.

Viele Investoren fühlen sich in solchen Phasen wie Könner und nicht wie Zocker. Befeuert wird diese Illusion von einem euphorisierenden Belohnungssystem im Kopf - in der Finanzwelt wie am Spieltisch. Von süchtigen Spielern ist bekannt, dass sie sogar bei reinen Glücksspielen wie Roulette Gewinne ihren eigenen Fähigkeiten zuschreiben. Das ist die Psychologie, die erfolgreiche Fondsmanager und Firmenlenker plötzlich zu waghalsigen Manövern auf unbekanntem Terrain ermuntert. Wer in der Vergangenheit erfolgreich Schrauben verkauft hat, wähnt sich plötzlich als unschlagbarer Geschäftsmann.

Platzt dann das Unvorhergesehene herein, versuchen die Akteure, entweder krampfhaft an gewohnten Rezepten festzuhalten, oder sie brechen in übereifrigen Aktionismus aus. Irgendwas muss jetzt passieren: Abteilungen werden umstrukturiert, Menschen entlassen, Abläufe geändert, egal wie, Hauptsache agieren. Leider ist das oft so falsch wie hektische Lenkbewegungen auf einer vereisten Fahrbahn. Laborexperimente haben gezeigt, dass hirngeschädigte Menschen in unvorhersehbaren Gefahrensituationen oft besser reagieren als Normaldenkende. "Die Welt ist aber immer ein bisschen verrückter als du denkst", warnt der Ex-Börsenmakler und Autor des 2007 erschienenen Buches "Der schwarze Schwan", Nassim Nicholas Taleb, in dem er über die Macht unvorhersehbarer Ereignisse schreibt.

Die menschliche Psyche gesteht ein drohendes Scheitern umso weniger ein, je mehr bereits investiert wurde. Verluste sind schwer zu akzeptieren, bis sie einem wie eine Bombe um die Ohren fliegen. Moderne Fluggesellschaften wissen das und trainieren Piloten darauf, wie man beispielsweise einen riskanten Landeanflug noch kurz vor dem Aufsetzen abbricht. Weil auch ein erfahrener Flugkapitän in die Situation geraten kann, dass er mit Tunnelblick eine gefährliche Landung riskiert, darf der erste Offizier einen Abbruch befehlen. Der Vorgesetzte muss in diesem Fall gehorchen. Von ähnlichen Mehr-Augen-Prinzipien hat man in der Wirtschaftswelt noch wenig gehört.

Hilfreich für die Zukunft wäre vielleicht eine Art Bio-Verordnung für die Finanzwelt. Kontrollierte Anlageprodukte, frei von genetisch veränderten Bestandteilen und frei von Vertrauen zerstörenden Pestiziden. Auch das wird das grundlegende Leiden der Ökonomie nicht beseitigen können. Märkte sind stets manisch-depressiv. Mit dieser Erkenntnis lässt sich zwar nicht sagen, was morgen passieren wird. Aber für den generellen Umgang mit dem Patienten Kapitalismus ist es gut zu wissen.

© SZ vom 17.12.2008/hgn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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