Sozialwissenschaftler Dieterich:"Hallo Heinz, es lebe unser Machtblock"

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Sozialwissenschaftler Heinz Dieterich berät die linken Herrscher Lateinamerikas. Er sagt, er habe den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" erfunden.

P. Burghardt

Die Nationale Autonome Universität Mexikos, kurz UNAM, ist von jeher ein Hort rebellischer Ideen. Aus dem riesigen Campus mit seinen 300.000 Studenten kommt seit Jahrzehnten Widerstand gegen neoliberale Politik. 1968 ließ die Regierung Hunderte Demonstranten erschießen. Aus dem Dunstkreis der UNAM stammt das Konzept vom "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", das vor allem Venezuelas Präsident Hugo Chávez verehrt. Doch erfunden hat dies kein Lateinamerikaner, sondern der Deutsche Heinz Dieterich, geboren 1943 in Rotenburg an der Wümme. Der Sozialwissenschaftler studierte bei Adorno und Horkheimer in Frankfurt, wo er mit Joschka Fischer demonstrierte, sowie in Bremen. 1977 bekam er einen Lehrstuhl an der UNAM und lehrt dort bis zu seiner Pensionierung in diesen Wochen Soziologie und Methodologie. In Lateinamerika ist Dieterich als Stichwortgeber und Vertrauter von Chávez sowie anderen Präsidenten der linken Welle wie dem Bolivianer Evo Morales bekannt. Auch mit den Castros diskutierte er nächtelang, Fidel Castro ließ ihn bei einer Kundgebung zum 1. Mai in Havanna sprechen. In Deutschland, das er BRD nennt, kennt ihn kaum jemand.

Venezuelas Staatschef Hugo Chávez macht der niedrige Ölpreis schwer zu schaffen. (Foto: Foto: Reuters)

SZ: Ist die Finanzkrise für einen Kapitalismuskritiker wie Sie Genugtuung?

Heinz Dieterich: Das kann für niemanden Genugtuung sein, weil nach UN-Statistiken zusätzlich mehr als 100 Millionen Menschen in Armut hineingeschoben werden. Aber die Krise war natürlich vorauszusehen in einem weltwirtschaftlichen Marktsystem, das asymmetrische Tendenzen hat und mit der Konzentration von Reichtum und Macht instabil ist. Das wurde verstärkt durch die Liaison von ökonomischen und politischen Eliten. Regierungen haben ihre Aufsichtsfunktion nicht wahrgenommen.

SZ: Und Lateinamerika ist nun Avantgarde des Umkehrschwungs?

Dieterich: Lateinamerika hat in den letzten Jahren ein Beispiel für die Anwendung keynesianischer Entwicklungspolitik gegeben, einer Art sozialen Marktwirtschaft. Viele der neuen Präsidenten haben das Ideal sozialer Gerechtigkeit. Dass jeder Zugang haben muss zu Erziehungs- und Gesundheitssystem und Altersversorgung und so weiter. Die Frage ist, ob der Übergang von der Marktwirtschaft zu einer wertbasierenden demokratisch geplanten Ökonomie stattfinden wird. Politisch und ökonomisch sind keine entscheidenden Schritte zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts getan worden. Alle Eingriffe in Venezuela, zum Beispiel die Verstaatlichungen, liegen im Rahmen der Marktwirtschaft. Wenn jemand in so desolater Situation an die Regierung kommt, dann wollen die Leute natürlich sofort eine Verbesserung ihrer Lebenssituation sehen. Da muss man sich konzentrieren auf Probleme der Arbeitslosigkeit, der Ausgrenzung und so weiter. Es gibt eine Serie von Schritten, bevor man eine neue Zivilisation konstruiert.

SZ: Was ist unter Ihrem "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" genau zu verstehen?

Dieterich: Eine Ökonomie, die in drei Aspekten anders organisiert ist als die kapitalistische Marktwirtschaft. Motiv ist nicht mehr, Gewinne zu machen, sondern Bedürfnisse zu befriedigen. Zweitens werden die Eigentumsformen an den Produktionsmitteln durch das Äquivalenzprinzip, also den Austausch über gleiche Werte, irrelevant. Drittens muss man den Marktpreismechanismus durch eine auf Wert basierende Buchführung und Kalkulation ersetzen. Wert wird dabei verstanden als Arbeitszeit.

SZ: Sie haben sogar vorgeschlagen, eine Putzfrau solle für 40 Stunden so viel bekommen wie ein Bankdirektor. Klingt alles nicht sehr praktikabel.

Dieterich: In der Einführungsphase müssen Einkommensspannen berücksichtigt werden, sonst gehen Hochqualifizierte natürlich woanders hin. Ein Ingenieur in Venezuela ginge nach Mexiko oder Texas, wenn, wie Chávez mal vorgeschlagen hat, jeder Arbeiter 1000 Dollar bekommt. Da muss man realistisch sein.

Lesen Sie im zweiten Teil, wie stark der gesunkene Ölpreis Venezuela trifft - und wie Heinz Dieterich die Zukunft Kubas einschätzt.

SZ: Vorläufig leidet Lateinamerika unter gewaltigen Einkommensunterschieden.

Dieterich: Im Neoliberalismus kamen die Vorteile ausschließlich den Eliten zugute. Die Konzentration des Reichtums, verbunden mit der skrupellosen Veräußerung nationaler Unternehmen und natürlichen Ressourcen wie Öl und Mineralien, hat zu völliger Unterordnung unter die Interessen des Washington-Konsenses geführt. Das war eine Demontage von lateinamerikanischen Nationalstaaten, Ökonomie, Bildung, Identität. Das war ein Neokolonisierungsversuch, in der Tiefe wie 1492. Deshalb wurde die Reaktion der Leute so verstärkt.

SZ: Und ein Deutscher als Berater von Venezuelas Präsident Hugo Chávez schürt die Gefühle?

Dieterich: Ich habe nie eine offizielle Beraterfunktion ausgeübt, weil ich meine Freiheit als Wissenschaftler behalten wollte. Es gibt eine persönliche Freundschaft mit dem Präsidenten Chávez, ebenso mit Evo Morales und anderen Präsidenten. Ich gebe gerne Analysen weiter und warne bei Schwierigkeiten. Zentrale Elemente meiner theoretischen Arbeit wurden übernommen, zum Beispiel das Konzept vom "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" oder das Konzept des lateinamerikanischen regionalen Machtblocks. Einmal morgens auf dem Flug nach Brasilien sagte Chávez zu mir: Hallo Heinz, es lebe der lateinamerikanische Machtblock.

SZ: Hängen nicht vor allem Chávez' Vorstöße vom schnöden Ölpreis ab?

Dieterich: Venezuela kalkuliert für 2009 mit einem Ölpreis von 60 Dollar, Russland mit 65 Dollar und Iran mit 95 Dollar. Russland und Iran sind die wichtigsten Verbündeten Venezuelas, also werden alle drei Länder ziemlich geschwächt. Das hat Auswirkungen auf politische Projekte und Verhandlungsmacht von Präsident Chávez. Da muss er auf Reserven zurückgreifen oder Schulden machen und außerdem der Staat effizienter werden. Auch ist Venezuela durch die Entdeckung großer Ölfelder vor Brasilien, ohne das in Lateinamerika gar nichts entschieden wird, relativ weniger mächtig geworden. Und die meisten Venezolaner wollen weder Konfrontation mit den USA noch Polarisierung, sondern friedlich zusammen leben, Sicherheit, geringe Inflation und so weiter.

SZ: Kuba feiert bald 50 Jahre Revolution. Wie lange hält die Insel noch durch?

Dieterich: Kuba wird sich durch entwicklungsfördernde Maßnahmen und strategische Allianz mit Venezuela, China, Brasilien und Russland und die Entdeckung von Ölvorräten konsolidieren. Sofern die Partei im Auge behält, dass sie wenig Zeit hat. Wenn das sehr langsam geht wie in der DDR oder Sowjetunion, dann gibt es Schwierigkeiten. Die Leute wollen in den nächsten drei Jahren wirklich Verbesserungen sehen.

SZ: Sie kennen beide Castros. Wer bestimmt, doch noch der kranke Fidel?

Dieterich: Ich denke, dass Raúl die Entscheidungen trifft und Fidel Berater ist. Es gab da einen Machtübergang. Maßnahmen wie die Freigabe von Land zur Pacht und Handyverkäufe sind Zeichen neuer politischer Kultur.

SZ: Sie haben angeblich Raúl Castros Biographie geschrieben, das Manuskript aber im Tresor eingeschlossen. Wieso?

Dieterich: Als wir die 400 Seiten 2006 veröffentlichen wollten, Raúl war damals noch Verteidigungsminister, da sagte er, Fidel müsse das erst mal durchschauen. Jedes Wort von ihm sei Staatsräson.

SZ: Wie eng ist Ihr Kontakt noch?

Dieterich: Zuletzt hatte mich Evo Morales gebeten, ein internationales Solidaritätsnetzwerk für Bolivien aufzubauen. Dazu kam Ecuador. Diese Woche bin ich in Venezuela, bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit Chávez, nächsten Monat auf Kuba. Chávez hatte mir einen Think Tank vorgeschlagen. Ich lehnte das erst ab, nach meiner Pensionierung jetzt kann man darüber noch mal nachdenken.

SZ: Und Deutschland? Die Zeit ernannte Sie nach einem Heimatbesuch gerade zum "deutschen Che Guevara".

Dieterich: Moment, ich muss die Tür aufmachen, da kommen Leute von einer chinesischen Zeitung. Also, der Che war 100-prozentiger Revolutionär, ich bin kritischer Intellektueller. In Deutschland ist da wenig nachgewachsen. Aber die erkenntnistheoretische Radikalität und der politische Kompromiss würden in einem Land der Ersten Welt leiden. Ich war mal bei Reemtsma im Hamburger Institut für Sozialforschung, und nach sechs Wochen in diesem Feudalviertel habe ich gemerkt, dass das profunden Einfluss auf das Denken hat.

© SZ vom 10.12.2008/tob - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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