Serie: Kapitalismus in der Krise:Kontrolle muss sein

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Wikipedia sammelt alle Fakten der Welt, um sie aller Welt frei zugänglich zu machen. Das war die Idee. Doch ohne Kontrolle geht es nicht.

Renate Meinhof

Fräulein Fiebig sitzt in einer großzügigen Berliner Altbauwohnung, Eisenacher/Ecke Kleiststraße in Schöneberg, eine bescheidene Gegend. Auf dem Bürgersteig trudeln im schneidend kalten Morgendunst Männer vorbei, Arm in Arm, raus aus dem New Action (Leather Jeans Rubber Club), rein in die Pension Stockholm, wo man Zimmer mieten kann, ab 15 Euro die halbe Stunde. Von der Welt unten auf der Straße muss Fräulein Fiebig oben im Büro so viel nicht mitbekommen. Ihre Welt ist die größere, also die ganz große Welt: das Weltwissen. Das lässt sich lenken von überall.

(Foto: screenshot: wikipedia.de)

Vor Henriette Fiebig auf dem Schreibtisch steht ein Schild, das sie nur zum Spaß dahin gestellt hat. "Sie sprechen mit Fräulein Fiebig", steht darauf. Denn man spricht gar nicht viel mit Fräulein Fiebig, jedenfalls nicht im "face-to-face-Kontakt", wie sie es nennt, oder am Telefon. Sie ist für Wikipedia, die Online-Enzyklopädie, im Netz unterwegs, eine der wenigen angestellten Mitarbeiter im Weltheer der Freiwilligen. Nur manchmal also ruft jemand an, der, zum Beispiel, unter dem Suchwort "Heizung" bei Wikipedia gelandet ist, und sagt: "Hallööchen, ik möchte gern den Allesbrenner bei Ihnen bestellen."

"Nee, nee", sagt Henriette Fiebig dann, "wir kümmern uns hier um freies Wissen, und gar nicht um Öfen."

"Ja, aber denn wissen se doch, wo ik meinen Ofen herkrieg'!"

Henriette Fiebig ist Community Assistent bei Wikimedia Deutschland, deren Geschäftsstelle vor kurzem nach Berlin gezogen ist. Sie sagt: "Die Leute gehen davon aus, dass wir alles wissen." Was für ein gigantisches Projekt das ist, Wikipedia. Alles Wissen der Welt zu sammeln, um es aller Welt frei und kostenlos zugänglich zu machen. Das war die Idee, die Jimmy Wales, der Gründer der Wikimedia Foundation, vor fast acht Jahren hatte.

Bühne der Eitelkeiten

Jeder kann in der elektronischen Gemeinschaft mitschreiben, kann ergänzen, verändern. Ein gigantischer Marktplatz für leidenschaftliche Dilettanten, beseelte Gelehrte, vernagelte Sonderlinge, die einzig der Gedanke verbindet, etwas zu schaffen, das über das eigene Dasein hinausreicht. Eine Bühne der Eitelkeiten, auch das. Elf Milliarden Mal im Monat klicken Menschen in aller Welt Wikipedia-Seiten an. Sie sind frei von Werbung und finanzieren sich über Spenden. In deutscher Sprache sind schon 850000 Artikel erschienen. Etwa 500 neue kommen täglich dazu, andere werden verbessert, erweitert oder gelöscht. Ohne Kontrolle, ohne Regeln und Steuerung geht es längst nicht mehr. Die Weisheit der Vielen erschließt sich nur, wenn auch Viele sie lenken.

Der Anfang war anders. Am Anfang, so beschrieb es einmal der amerikanische Schriftsteller Nicholson Baker, glich "das Unternehmen einem gigantischen Wir-sammeln-Laub-Projekt, in dem jeder sofort als Landschaftsgärtner bezeichnet wurde... Der Haufen wuchs, und jeder tollte darin herum...Zuerst war alles nur Spaß gewesen."

Längst gibt es gewählte "Administratoren", in Deutschland sind es etwa 300, die von der Community mit mehr technischen Möglichkeiten ausgestattet werden als normale Benutzer. Sie haben das Recht, Seiten zu sperren oder Benutzer, sie können auch Seiten löschen. Sie schlichten "Edit-Wars", also endlose Bearbeitungskriege zwischen Wikipedianern. Sie schlagen sich mit Menschen herum, die, im Schutz der Anonymität, das Lexikon als PR-Maschine missbrauchen, und mit Vandalen. Das sind Leute, die Texte bewusst verfälschen, also Fehler einbauen oder einfach nur "FUCKFUCKFUCK" in die Zeilen schreiben. Letzteres wird von anderen Wikipedianern oft schon nach Minuten entdeckt und wieder entfernt, schwer erkennbare Verfälschungen aber halten sich manchmal Tage, Wochen, auch Monate.

Nun gilt die deutsche Wikipedia-Gemeinde als vorbildlich, was die Qualität der Artikel betrifft. Nirgends ist man dem objektiven Leitbild einer Enzyklopädie so nah wie hier. Es gibt eine Geschäftsstelle, eine Pressesprecherin und Henriette Fiebig, die sogar ein Buch über Wikipedia geschrieben hat.

Und dann trotzdem dieses Schulprojekt. Wolfgang Harnischfeger sitzt in seinem Schulleiter-Büro im Beethoven-Gymnasium in Berlin-Lankwitz. Er hat die Wikipedianer für einen ganzen Vormittag in die Schule gebeten, denn seiner Erfahrung nach ist das gesammelte Weltwissen der Wikipedia für Heranwachsende eine Mischung aus Faszinosum und Fluch. So würde er es vielleicht nicht ausdrücken, aber er sagt Sätze wie diese: "Man gibt ein Referat auf, die Schüler gehen zu Wikipedia, klicken, kopieren absatzweise, und das ist dann die Wahrheit!" Aber wer prüft schon diese Wahrheit, fragt nach den Quellen?

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was in der Wikipedia das Allerheiligste ist.

Manchmal klickt Harnischfeger einfach hinterher, um die Fundstelle zu suchen. Findet sie schnell. Häppchenwissen nennt er das, was seine Gymnasiasten da verzehren, oder eben: ausspucken. "Die sollen doch nicht so textgläubig sein", ruft Harnischfeger und gibt sich nicht Mühe, seine Erregung zu verbergen. Catrin Schoneville, Pressefrau der Wikimedia Deutschland, auf dem Sofa gegenüber sitzend, sagt: "Wir profitieren gegenseitig, und wir können zeigen: Hey, wir sind nicht der Feind Nummer Eins!"

Das Angebot der Wikipedianer, Schülern den Umgang mit Wikipedia zu erklären, traf auf ein Bedürfnis, und also ist Denis Barthel aus Essen angereist, ein Projektmanager und Administrator aus der weltweiten Wiki-Gemeinde. Vor ihm sitzt eine neunte Klasse. Nahezu alle Schüler benutzen die Online-Enzyklopädie. Keiner weiß, wie sie entsteht. "Das Allerheiligste in der Wikipedia sind zuverlässige Quellen", sagt Barthel, "Unbequelltes kann gelöscht werden." Er wirft Beispiele an die Wand. Zu viele-für zwei Doppelstunden, die er investiert, um den Neuntklässlern textkritisches Arbeiten im Internet nahe zu bringen.

Und Bücher? Benutzt man noch Bücher? Poupou sitzt stundenlang in Bibliotheken. Poupou heißt Poupou, weil sie zwischen ihrer "Wiki-Existenz" und ihrer beruflichen eine klare Trennung haben möchte. Poupou ist Anwältin in einem großen Unternehmen, hat auch Musikwissenschaften und Kunstgeschichte studiert. Sie ist jetzt 33. Als sie für die Examina lernte, stieß sie auf Wikipedia, 2005 war das. Was sie da fand, sei "grottig" gewesen, sagt Poupou. Und weil sie immer schon übers Schreiben lerne, habe sie begonnen, selbst Artikel zu verfassen.

Viel Rechtliches hat sie geschrieben, aber aufgefallen war einem Poupou wegen der Zitronenpresse. Wenn man seitenlang über deren Geschichte, Funktionsweise und dekorative Eigenschaften schreiben kann, wenn man Wochen in Archiven verbringt, nach Fundstellen in der Literatur forscht, historische Kochbücher wälzt und sich durch die Patentanmeldungen vergangener Jahrhunderte ackert, ist man entweder besessen und süchtig, oder man hat einfach nur einen Riesenspaß an akribischer Recherche.

Geadelte Zitronenpresse

Bei Poupou ist es eine Mischung. Die Zitronenpresse ist inzwischen geadelt und in die Liste der "Exzellenten Artikel" aufgenommen worden. Nur manchmal guckt Poupou sich an, was andere Wikis an ihren Artikeln verändert haben. Zu leicht kann man sonst in jenen flatterigen Zustand rutschen, den Henriette Fiebig in ihrem Buch unter dem Stichwort "Wikistress" beschreibt: Ärger über Vandalen, unberechtigte Löschanträge, schlechte Umgangsformen. Ein paar Tage Urlaub könnten da Wunder wirken, schreibt Fiebig - ohne Notebook natürlich, ohne Internet-Café.

Poupou sitzt in einem Restaurant am Potsdamer Platz in Berlin. Ein paar Tage noch, und sie hat Urlaub. Das Schreiben, sagt sie, habe auch etwas Egoistisches. "Sie müssen niemanden fragen, um vor aller Welt zu veröffentlichen. Man schreibt, und plötzlich ist man... Da."

© SZ vom 29.12.2008/mel - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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